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Wie ich über Ungarn in den Westen floh

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Wir laufen schon eine ganze Weile. Irgendwo hier muss die Grenze doch sein?! Die Nachmittagssonne steht hoch an diesem 20.August 1989. Der Wald ist hier in der Nähe von Sopron (Ödenburg) wie solch ein Wald auch in der DDR sein könnte.

Wichtige Fragen gibt es für uns hier und heute: Wo sind gerade die ungarischen Grenzsoldaten und wo die Wachtürme? Gibt es in diesem Wald Stacheldraht oder gar Minen?

Bisher hat unsere Gruppe gar nichts von dem gesehen. Wir, das sind ca. 50 Personen, wohl eher zufällig in dieser ungarischen Dorfkneipe in Grenznähe auf ungarischer Seite des Neusiedler See. Darunter sind wir 3 Freunde, die jetzt im Gänsemarsch in Richtung Nirgendwo starten. Sicher ist das hier organisiert, aber von wem? Das fragen wir uns noch heute.

Bunt gekleidet, kurze Hosen, ohne Proviant, ohne Getränke gegen den Durst. Eine Wanderung eben genau so, wie wenn man zufällig irgendwo vorbei kommt und einem klar wird, das ist eine/die Chance etwas wirklich Einmaliges zu sehen.

Es sah in diesem Fall nach einer Massen-Flucht aus, irgendwie. Ein geheimer Wunsch konnte also wahr werden. Aber nur jetzt!

Eine Gruppe von so viel Personen, wohl alles DDR-Bürger, gibt auch eine gewisse Sicherheit, wenn es denn doch schief geht. Kennen wir ja: geteiltes Leid ist halbes Leid.

Und dann, nach einem Marsch von ca. 45 Minuten, kam von der Gruppenspitze die Info: Jetzt sind wir drüben. Ihr könnt wieder sprechen, sogar rauchen - wer will...

Auf einmal waren wir also in ÖSTERREICH. Unfassbar. Unfassbar einfach. Unfassbar leicht. Ade Ungarn. Ade Sozialismus. Ade Freunde in der DDR.

Ade Eltern. Wir sehen uns dann spätestens 2004 wieder, wenn Ihr, Vater und Mutter, Rentner seid und Reisen dürft. In die große weite Welt und in den anderen Teil unseres geteilten Landes. West-
geld werde ich Euch dafür jetzt geben können. Jetzt werde ich also vor Euch dort sein, mit erst 28 Jahren. In der Bundesrepublik Deutschland - dem „Westen".

Beim ach so bösen Kapitalismus. Und wo es so gut riecht, wenn unsere Wahrnehmung aus dem „Intershop" uns nicht täuschen.

Manche, die zu DDR-Zeiten schon mal besuchsweise „drüben" waren sagten uns immer: Im Westen ist sogar das Gras grüner. Leute gibt es...

Wenn man, wie wir, zu Dritt diesen Weg gen Westen geht und noch jemanden hat, der einem Unterstützung und ein Ziel mit erster Unterkunft (Stuttgart) bietet, dann ist die Ungewissheit nicht ganz so groß.

Mörbisch am See, gemeint ist der Neusiedler See, stand auf dem weißen Ortsschild mit schwarzer Schrift, welches wir nach unserer folgenreichen Wanderung sahen. Was erwartet uns jetzt in Österreich? Wie geht es jetzt weiter? In Österreich. Im Westen Deutschlands. Im (neuen) Leben? Gespannte Erwartung.

Auch Freude, natürlich. Über das Glück, dass ich noch gar nicht fassen kann. Vor einem Jahr ist mein Kumpel beim privaten Fluchtversuch in Ungarn gefasst worden. Die Konsequenz: Auslieferung von Ungarn an die DDR. Verurteilung wegen Republikflucht. DDR-Knast für ihn.

Wie schnell sich Weltpolitik ändern kann.

Auf der von den Österreichischen Behörden organisierten Busreise von Mörbisch am See nach Wien, wir bekamen nach der Aufnahme unserer Personalien Busse gestellt, konnte ich es mit eigenen Augen sehen: die Häuser hatten schicke Fassaden, die Strassen waren gemacht und ohne Löcher, die Fußwege waren gepflegt und das Gras war... grüner...! Ich kann es noch heute beschwören.

In Wien empfing uns die Deutsche Botschaft. Die Botschaft war voller Ex-DDR-Bürger. Fast alles junge Leute. Der Exodus der DDR hatte begonnen und nahm Ausmaße an. Es ist immer beängstigend für ein Land, wenn ihm die Jugend weg läuft!

Und es waren in meiner Wahrnehmung durchweg „vernünftige Leute", viele mit kleinen Kindern. Die personelle Zukunft der DDR verließ das Land, welches sich als Gewinner der Geschichte sah?!

Und ein Ende der Schlange der Ausreisenden war nicht abzusehen, denn das Aufnahmelager in Gießen war schon Ende August voll.

So schickte man uns, nachdem wir unsere 200 Schilling (Kurs D-Mark zu Schilling damals 1:7) Begrüßungsgeld zur Feier des Tages in echtes Gösser-Bier eingetauscht hatten und einer von der deutschen Botschaft organisierten Nacht im Studenten-Hotel AQUILA, Zimmer 389, mit einem vollen Sonderzug ab Wien (Abfahrt 21.25 Uhr) in Richtung Deutschland-West. Über Passau und Aschaffenburg kamen wir im beschaulichen 7.000 Einwohner Städtchen Schöppingen in Westfalen, unserer nächsten Station, an.

Danke an dieser Stelle noch mal an den unbekannten freundlichen Herren auf dem Bahnhof in Aschaffenburg der mir früh um 5, ich war sehr neugierig auf das neue Land..., einen echten 20 D-Mark-
Schein einfach so in die Hand drückte, als ich beim kurzen Halt auf dem Bahnhof zufällig aus dem Zugfenster schaute, um erstmals in meinem Leben Aschaffenburger Luft zu schnuppern.

Das Aufnahmelager in Schöppingen, eigentlich eine 1987 geräumte NATO-Kaserne, gedacht für Spät-
Aussiedler aus Russland, wurde jetzt Zwischenstation für uns Landsleute aus dem Osten.

Über uns Ostdeutsche als temporäre Gäste war man im Ort nicht traurig. So die Reaktionen in der dortigen Kneipe, die wir mit unseren paar Kröten, wir bekamen wieder ein Begrüßungsgeld, still, leise und schüchtern besuchten.

Natürlich fiel es auf, wenn 3 Nicht-Einheimische in der kleinen Stadt Schöppingen erstmals in einer dortigen Kneipe sind. Danke für das Bier, dass Ihr uns Dreien dort spendiert habt.

Aufnahme der Personalien, Ausgabe Begrüßungsgeld (200 DM), Befragung durch Sicherheitsorgane des Bundes, Orientierungshilfe für Übersiedler ohne konkretes Ziel, Ausgabe der Bahnfahrkarten für die Zielgerichteteren - dafür steht für mich im Nachhinein Schöppingen.

Am 25.08. bekam ich (m)eine Bahnfahrkarte nach Stuttgart, meinem ersten Ziel. Und durfte damit u.a eine Bahnfahrt entlang dem Ufer des Rheins genießen. Was uns die DDR so alles vorenthalten wollte, dachte ich mir so. Ich habe wohl fast die ganze Bahnfahrt am Fenster gestanden, um so wenig wie möglich zu verpassen.

Stuttgart wollte der Zufall und wäre sicher nicht meine erste Wahl gewesen, wenn ich freie Wahl hätte. Aber hier waren zum Glück für mich Freunde und Bekannte, die meinen Start deutlich erleichterten.
Das war mir klar und wichtig.

Was macht also ein Diplomsportlehrer aus Leipzig, ohne große Berufserfahrung, der Studienabschluss war erst 3 Jahre her, im Kapitalismus, fragte ich mich? Was kann ich? Was will ich? Welche Kompromisse bin ich breit einzugehen?!

Aktuell arbeitslos - klar, wohnen durfte ich bei Freunden, musste ich jetzt selbst aktiv werden, um bald unabhängiger zu werden. So hatte ich es aber auch erwartet.

Ich nahm sehr bald das Angebot des Arbeitsamtes an und ließ mich zum Industriekaufmann umschulen. Mein 3. Beruf und diesmal vielseitig verwendbar. Erfolgreicher Abschluss nach 1,5 Jahren bei der IHK Stuttgart. Sportlehrer wie mich, von der DHfK, brauchte man offensichtlich nicht so zahlreich, wie das mit DDR-Brille zu vermuten wahr....

Als Sport- und besonders Fußballinteressierter durfte ich jetzt hautnah den Bundesligafußball erleben. Wohl jeder Fußballinteressierte in der ehemaligen DDR hatte, gleichzeitig zu seinem Favoriten im DDR-Fußball, auch seine Lieblings-Westmannschaft.

Meine Premiere war dann auch bereits im September der Besuch des Spiel des VfB Stuttgart gegen „meinen" FC Bayern München (2:1) im Stuttgarter Stadion, das damals noch Neckarstadion hieß. Fußballgenuss für 15 D-Mark. Fußballtechnisch war ich also im Westen angekommen.

Über den Sport, ich suchte gesellschaftliche Kontakte im neuen Umfeld und trainierte bald eine Kindergruppe bei einem Wasserballverein in Stuttgart-Bad Cannstatt, bekam ich auch einen Praktikumsplatz in einer Firma, die meine erste Festanstellung im Westen werden sollte. Ich war also auch im Berufsleben angekommen.

Und ich machte mich offensichtlich im neuen Beruf nicht so schlecht, da man mir einen Job als Niederlassungsleiter im Osten des neuen, größeren Deutschland an bot, um den Vertrieb für die Firma regional und vor Ort anzukurbeln.

Nach nur 3 Jahren Abwesenheit aus der DDR war ich schließlich und endlich Ende 1992 wieder in Leipzig angekommen, dem eigentlichen Startpunkt meiner geplanten Urlaubsreise nach Bulgarien, die nur bis Ungarn führte und in Stuttgart endete, weil es die Weltpolitik zufälliger-
weise gerade möglich machte.

Fazit 1: Nein, es war letztlich kein Spaziergang! Immerhin war unsere Wanderung am 20.08.1989, ein Tag nach dem Paneuropäischen Picknick, mein 3. Fluchtversuch in Ungarn. Der 1. Versuch wurde wegen zu starker Grenzkontrollen in einer anderen Region in Ungarn von uns bewusst abgebrochen.

Beim 2.Versuch wurden wir zwar gefasst, aber wieder laufen gelassen. Zum Glück waren die Ungarn im August 1989 schon sehr großzügig im Umgang mit ostdeutschen Flüchtlingen.

Und: Nach meiner Zeit der Arbeitslosigkeit in der DDR im Frühjahr 1989, nach Berufsverbot in der DDR-Sportorganisation DTSB und dem Erleben von 6 Stunden Stasi-Verhör in Berlin-Hohenschönhausen, nach den Zeiten der Hoffnungslosigkeit in meine Zukunft in der DDR habe ich mir den letztlichen Erfolg bei der Flucht redlich verdient, finde ich.

Fazit 2: Ich habe meinen Umweg nie bereut! Nicht jeden der zu spät kommt, den bestraft das Leben! Früher oder später holt die historische Gerechtigkeit sogar ganze Länder ein.

Danke Österreich! Danke Ungarn! Köszönöm! & Viszontlátásra! Danke & Auf Wiedersehen!

So kompliziert war ein Umzug in den Westen, bevor die Mauer fiel

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De facto gab es an diesem sogenannten Wahlsonntag im Herbst 1954 nur eine offene Stimmabgabe, ohne Wahlkabine und ohne Ankreuzen einer von mehreren Parteien. Es gab nur ein „Ja" oder ein „Nein" für die Kandidaten der Nationalen Front.

Ich hatte meine Mutter politisch noch nie so erregt erlebt wie an diesem Tag. „Wenn ein Staat so etwas als Wahl bezeichnet, ist er noch zu ganz anderem fähig!", empörte sie sich.

Wie wahr! Obwohl zu dieser Zeit wohl noch niemand an den Bau einer Mauer quer durch Berlin dachte.
Es waren also weder freie noch geheime und somit keine demokratischen Wahlen. Es blieb eine Farce, eine „Wahl" jenseits echter Alternativen, aber mit fassadendemokratischem Anstrich.

Das war die Meinung bei uns zu Hause. Und in der Schule? Wenig später nach dem für uns so entscheidenden Sonntag schrieb ich in Gemeinschaftskunde folgende Hausarbeit über die Volkskammerwahl 1954:

„Das Ergebnis der Volkswahlen vom 17. Oktober zeigt die Bejahung der Politik unserer Regierung durch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Der Sieg der gemeinsamen Liste der Nationalen Front ist ein Beweis dafür, dass die Regierung der DDR auf dem richtigen Wege ist.

Dieser Weg ist der Weg des Friedens, der Freundschaft zu den Nachbarvölkern und
ein Weg zur friedlichen Verständigung der Deutschen. 99 Prozent der Bevölkerung der DDR und Ost-Berlins stimmten gleichzeitig gegen die von Adenauer betriebene Wiederaufrüstungspolitik
der Bundesrepublik und der Vorbereitung eines neuen Krieges gegen das Lager des Sozialismus.

Der 17. Oktober zeigte den Imperialisten ihren mächtigen Feind. Dieser Feind der Imperialisten und Monopolherren sind die 11 Millionen Deutschen in unserer Republik, denn sie wussten, um welche wichtige Entscheidung es bei diesen Wahlen ging: nämlich um die Entscheidung zwischen dem Lager des Friedens und der Verständigung und dem Lager des Krieges.

Wer gegen die Kandidaten unserer Nationalen Front stimmte, gab seine Stimme den Kräften, die gegen das eigene Volk sind und Kriege vom Zaune brechen. Unser Bekenntnis zu den Grundprinzipien der Nationalen Front war und bleibt ein Bekenntnis zur Friedenspolitik unserer Deutschen Demokratischen Republik. Auch die 2. Volkskammer wird den richtigen Kurs der DDR bestätigen."

Verfasst hatte ich den Text so, wie man ihn von uns erwartete. Das war auch bei den meisten anderen Schülern jahrelang eingeübte und inzwischen nahezu perfekt gehandhabte opportunistische Praxis, Lippenbekenntnisse mit den üblichen Phrasen.

Von einem ging ich allerdings aus: Die Regierung macht den Frieden, die Völkerfreundschaft und die deutschdeutsche Verständigung zum festen Bestandteil ihrer Politik. Von diesen hohen Zielen war auch ich überzeugt.

In dieser Zeit bereiteten meine Eltern unseren Weggang vor. Die Firma Siemens und Halske, in der mein Vater seit über 20 Jahren als technischer Angestellter arbeitete, unterstützte dieses Vorhaben. Die Personalabteilung hatte ihm schon lange bescheinigt, sich zu einer spezialisierten Fachkraft
auf dem Gebiet der Fernmeldetechnik entwickelt zu haben.

„Wir sind deshalb daran interessiert, einem potenziellen Ausfall vorzubeugen und würden es begrüßen, wenn Herrn Willy Schülke mit Familie die Zuzugsgenehmigung für West-Berlin erteilt werden würde."

Folglich stand der Arbeitgeber einem Umzug von Anfang an wohlwollend gegenüber. Das Landesarbeitsamt in West-Berlin SW 68 Kreuzberg erteilte Vater am 11. Januar 1955 eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Zuzugsstelle des Wohnbezirksamtes.

Darin stand: „Die Erteilung der unbefristeten Zuzugsgenehmigung aufgrund des § 4 Ziffer 1 des Zulassungsgesetzes wird im Rahmen der für Schlüsselkräfte vorgesehenen Kontingente befürwortet.
Nach Erhalt der Zuzugsgenehmigung, die von der Zuzugsstelle des zuständigen Bezirksamtes erteilt wird, ist diese dem Facharbeitsamt I, Berlin-Wilmersdorf, Breitenbachplatz 2, zur Registrierung vorzulegen."

Am 25. Juli 1955 erfolgte die Genehmigung, nachdem am 30. Juni 1955 das „bis zum 2. Juli 1955 befristete Zuzugsversprechen" vom Bezirkseinwohneramt Charlottenburg verlängert worden war. Der Bezirk Charlottenburg war zuständig.

In diesem Bezirk hatten sich meine Eltern schon lange vorher bei Verwandten polizeilich mit Zweitwohnsitz angemeldet. Ich bekam eine unbefristete Zuzugsgenehmigung vom Bezirksamt Spandau mit Wirkung vom 30. Juli 1955 „gemäß § 4/5 des Gesetzes über den Zuzug nach Berlin vom 9. Januar 1951 (VOB I S. 84)".

Neben der Zuzugserlaubnis und einer polizeilichen Anmeldung wurde der Mietvertrag mit der Wohnungsbaugesellschaft nur „unter Vorbehalt der Genehmigung des Wohnungsamtes" abgeschlossen. Das Bezirksamt Spandau schickte am 21. Juni 1955 an den bevollmächtigten Verwalter des Hauseigentümers folgendes Schreiben:

„Auf Ihren Antrag erklären wir uns gemäß § 14 des Wohnraumbewirtschaftungsgesetzes
mit der Benutzung der im Hause Berlin-Siemensstadt ... Vorderhaus... gelegenen - bezugsfertigen - 3-Zimmer-Wohnung Neubau durch Herrn Schülke mit 3 Angehörigen einverstanden."

Damit stand seitens der westlichen Behörden unserem Umzug nichts mehr im Wege. Weil die komplizierte bürokratische Praxis offenbar ein gesamtdeutsches Phänomen war, beleuchte ich nun eingehend auch die andere Seite.

Eins sei an dieser Stelle aber noch angemerkt: Bei einem sicheren Studienplatz an der Humboldt-
Universität hätte ich offiziell ein Zimmer bei meiner lieben Omi am Arkonaplatz im Ost-Berliner Stadtbezirk Mitte bewohnt. Ständige Aufenthalte bei den Eltern im Westen wären ohnehin möglich gewesen.

Unser Umzugstransport aus der Hauptstadt der DDR nach West-Berlin musste rund sechs Monate vorher beantragt werden. Ferner musste man sich einem langwierigen bürokratischen Verfahren unterziehen. Wir taten beides ohne Murren.

So waren „Anträge auf Transportgenehmigung für Umzugsgut vom demokratischen Sektor nach West-Berlin" dem Magistrat von Groß-Berlin, Abt. für Innere Angelegenheiten, Innerdeutscher
Handel, Bln C 2, Altes Stadthaus, Eingang Stralauer Straße, einzureichen. Im Detail nannte man
8 Hauptpunkte, die als Unterlagen beizufügen sind. Punkt 1:

„Umzugsgut-Aufstellung in dreifacher Ausfertigung. Alle Gegenstände sind einzeln aufzuführen und fortlaufend zu nummerieren. Bei technischen und industriellen Erzeugnissen (wie Staubsauger, Kühlschränke, Möbel) ist die Lieferfirma sowie das Anschaffungsjahr ... anzugeben und außerdem der Eigentumsnachweis durch Beifügung der Rechnungen zu erbringen.

Können Rechnungen nicht vorgelegt werden, muss durch die Unterschrift eines Bürgen bestätigt werden, dass die Gegenstände Eigentum des Antragstellers sind". Unter Punkt 7
stand: „Bescheinigung des Arbeitgebers über das Einverständnis zum Umzug resp. die Notwendigkeit des Umzugs, mit genauer Angabe über Tätigkeit, Beginn und evtl. Beendigung des Arbeitsverhältnisses".

Daneben war eine eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben, dass die mitgeführten Sachen zum persönlichen Gebrauch bestimmt sind und keine Handelsware darstellen und dass dieselben nicht von anderen Personen benutzt werden, nicht gewerblichen Zwecken dienen und auch nicht gepfändet oder beschlagnahmt sind.

Kann es ein eindrucksvolleres Dokument deutscher Bürokratie geben? Trotz alledem, es ist im Leben fast alles relativ. Was hätte manche Flüchtlingsfamilie nicht alles dafür gegeben, um auch nur einen Bruchteil ihres Mobiliars mitnehmen zu dürfen!

So trugen wir einen Gegenstand nach dem anderen akribisch in Listen ein, vom 2,5 Meter langen Kleiderschrank bis hin zum kleinsten Taschentuch aus Kunstseide. Das Umzugsgut stand auf mehreren Listen mit 186 Positionen.

Position 39 lautete: „1 Küchenpendellampe mit gebrauchter Birne". Geradezu originell die Nummer 73: „Schlitten mit Apothekenschrank zusammengebunden". Bei den Nummern 76 bis 179 handelte es sich um genehmigungspflichtige Bücher. Bei politisch nicht ganz astreinen Büchern gingen wir auf Nummer sicher und brachten sie schon frühzeitig zu Vaters Schwester in den Westen.

Nachdem die via S-Bahn schon nach drüben transportierten Bücher sich bei den Verwandten auf dem Fußboden in der Küche stapelten, glaubten wir, die Selektion sei erfolgreich beendet. Meine
Eltern legten die von uns als lupenrein eingestufte Bücherliste vor.

Aber es war doch noch ein Haar in der Suppe. Als einziges Werk sollten wir ausgerechnet „Münchhausen" vorlegen. Warum? Weil der Drehbuchautor zum gleichnamigen Film sich seinerzeit zum Nationalsozialismus bekannt hätte, hieß es.

Beim dritten Besuch nun Buchabgabe! Die Position 178 war in der Liste gestrichen worden. Jedes Utensil in Vaters Werkzeugkasten hatten wir einzeln vermerkt, also 1 Hammer, 2 Kneifzangen ... Aber das reichte noch nicht.

„Wie viele Schrauben und Nägel?" fragte tatsächlich der Bürokrat. Darauf mein äußerlich ruhiger Vater: „Soll ich die etwa zählen?" - „Nein", entgegnete der penible Büromensch, „nur so ungefähr angeben, ob es 100, 200 oder mehr Gramm sind." Auch dies wurde anschließend zu Hause geprüft
und wahrheitsgetreu notiert.

Und endlich, nach Monaten permanenter, nahezu perfekter Privatinventur war der Umzug von Berlin nach Berlin genehmigt.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:
Eine Berliner Schulzeit im heißen und im kalten Krieg" von Klaus W. Schülke, 128 Seiten, viele Fotos,
Sammlung der Zeitzeugen (73). Zeitgut Verlag, Berlin. Broschierte Ausgabe, ISBN 978-3-86614-155-1, Euro 9,90
2014-11-07-Schuelke.Cover.CMYK.jpg

Der wahrscheinlich bedeutendste Versprecher der Nachkriegsgeschichte

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Ich sehe Tagesschau: Günter Schabowski gibt im Internationalen Pressezentrum (IPZ) der DDR in der Berliner Mohrenstraße eine Pressekonferenz. Vor laufenden Kameras passiert der wahrscheinlich bedeutendste Versprecher der deutschen Nachkriegsgeschichte - „... diese Regelung tritt nach meiner Kenntnis sofort in Kraft".

Danach Bilder von DDR-Bürgern, die an den Grenzübergängen den ersten Schlagbaum beiseiteschieben und sich weinend mit Westberlinern in die Arme fallen. Im fernen Karlsruhe, wo ich zu dieser Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bin, kann ich kaum glauben, was ich sehe. - Wenn die Mauer fällt, wenn die DDR wirklich ihre Grenzen öffnet, dann wird sich nicht nur Deutschland, sondern die Welt verändern - geht mir an jenem 9. November 1989 durch den Kopf.

13 Jahre später bekommt der Ort, an dem Schabowski versehentlich diese folgenreichen Worte gesprochen hat, für mich besondere Bedeutung. Das ehemalige IPZ wurde komplett umgebaut und beherbergt heute das Bundesjustizministerium.

Immer wenn ich in meiner Zeit als Bundesjustizministerin an dem Lichthof vorbei kam, der mal der Presseraum war, habe ich mich gefreut. Die Mauer war gefallen, erst ganz real und nach und nach auch in den Köpfen in Ost und West.

Die Bilder von jenen, die auf der Mauer saßen und standen, Symbol der Freiheit, Bilder des Glücks, entfalten auch heute noch ihre Wirkung. In jenen Tagen und Wochen gab es gelebte Solidarität. Daran sollten wir uns auch heute, 25 Jahre später, immer wieder erinnern.

Mythos Planwirtschaft: Vom Scheitern der DDR aus ordnungsökonomischer Sicht

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Wolf Biermanns eindrucksvoller Auftritt im Bundestag und die breite Resonanz zeigen eindrücklich: 25 Jahre nach dem Mauerfall ist die Vergangenheit der DDR keineswegs vollständig bewältigt. Während nach wie vor viel über den damaligen Unrechtsstaat diskutiert wird, ist die Wirtschaftsgeschichte des untergegangenen Sozialismus eher in den Hintergrund geraten und ist dabei von zahlreichen Mythen und Legenden umrankt.

Diese Mythen sind ausgesprochen gefährlich, unterminieren sie doch gerade unter jungen Bürgern die Akzeptanz der freiheitlichen Wirtschaftsordnung, nicht nur in den Neuen Ländern.

Vergleicht man die relative Einstellung zur Bedeutung der Freiheit im Vergleich zur Gleichheit in Ost und West, so ergibt sich ein bemerkenswertes Bild. Auch wenn in den vergangenen Jahren die Zahlen etwas homogener geworden sind, so zeigt der Freiheitsindex 2014 des John Stuart Mill Instituts deutlich, dass im Osten Gleichheit immer noch höher gewichtet wird als Freiheit, während im Westen die Freiheit dominiert.

Noch frappierender ist die Einschätzung zur Sozialen Marktwirtschaft. Obwohl sich ihre Akzeptanzwerte durch die vergleichsweise gute Entwicklung hierzulande während der gegenwärtigen Krise etwas verbessert haben, stellte das Institut für Demoskopie Allensbach Ende 2013 in der FAZ sogar eine „stille Liebe zur Planwirtschaft" fest.

In den Neuen Ländern sind demnach 42% der Bürger der Auffassung, dass es ihnen in einem im Vergleich zur Sozialen Marktwirtschaft stärker vom Staat kontrollierten System besser oder gleich gut ginge (alte Länder: 36%), während lediglich 18% im Osten glauben, dass es ihnen in einem solchen stärker kontrollierten System schlechter ginge (alte Länder: 34%).

Die Soziale Marktwirtschaft ist offensichtlich in die Defensive geraten und die Attraktivität von Gegenentwürfen scheint zu wachsen. Daher dürfen sich Ordnungsökonomen, die sich in den öffentlichen Diskurs einbringen wollen, meiner Auffassung nach nicht nur auf eine Beschäftigung mit der liberalen Theoriegeschichte in der Bundesrepublik und den Ideen der Gründungväter der Sozialen Marktwirtschaft beschränken.

Vielmehr muss ebenfalls die Geschichte des „sozialistischen Staates auf deutschem Boden" intensiv einbezogen werden: Die mangelnde Akzeptanz der heutigen Wirtschaftsordnung hat im Osten sicher auch mit der Verklärung der Mythen aus der eigenen DDR-Vergangenheit zu tun.

Im Projekt „Die Planwirtschaft der DDR - Mythos und Wirklichkeit" am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut geht es meiner Co-Autorin Pia Becker und mir um die Aufarbeitung gerade dieser Mythen mithilfe ordnungsökonomischer Instrumente.

Die Wirtschaftsgeschichte der DDR ist ein intensiv erforschtes Gebiet, so dass es uns nicht darum geht, der bestehenden Literatur ein weiteres umfassendes Buch hinzuzufügen. Stattdessen wird zunächst erörtert, welche grundsätzlichen Argumente denkbar sind, um die Frage nach der Über- oder Unterlegenheit der Planwirtschaft im Vergleich zur Marktwirtschaft zu erläutern. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren wurden die sogenannten Sozialismuskalkulationsdebatten zwischen liberalen und sozialistischen Ökonomen geführt, die auf verschiedenen Ebenen die Überlebensfähigkeit der sozialistischen Wirtschaftsordnung kontrovers diskutierten.

In der Studie wird untersucht, inwieweit es gerade die Argumente dieser Debatten waren, die auch den „real existierenden" Sozialismus zum Einsturz brachten. Es handelt sich insbesondere um die Fragen: 1) Vermachtung und die resultierenden Handlungsbeschränkungen für die Initiative des Einzelnen, 2) Innovationsfeindlichkeit wegen der Probleme einer dynamischen Wirtschaftsrechnung und die resultierende Unfähigkeit einer Einspeisung des verstreuten individuellen Wissens sowie 3) Rigiditäten des zentralistischen politischen Systems und die resultierende Reformunfähigkeit von Staat und Wirtschaft.

Uns geht es dabei nicht nur um die wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern auch darum, unsere Argumente für die Öffentlichkeit präsentierbar zu machen. Interviews mit Studierenden der Universität Erfurt und der Westsächsischen Hochschule Zwickau zeigten deutlich, dass eine deutliche Diskrepanz zwischen dem starken Erfahrungsbedürfnis junger Bürger im Hinblick auf die DDR-Geschichte einerseits und den quantitativ mangelhaften Leistungen vieler Lehrer im Schulunterricht andererseits besteht.

Für Schüler ist nicht feststellbar, ob es der vorgegebene Lehrplan oder der persönliche Unwille des Lehrers ist, der dazu führt, dass die DDR-Geschichte in den Neuen Ländern oft derart nachrangig behandelt wird. Wenn die Geschichte der DDR überhaupt im Unterricht Platz findet, werden nach Aussagen der Interviewten meist politische Aspekte wie die Stasi, der 17. Juni oder der Mauerbau thematisiert.

Was aber vollkommen unterrepräsentiert erscheint, ist die Wirtschaftsgeschichte der vier Jahrzehnte Sozialismus. Ein guter Nährboden für Mythen, die im öffentlichen Raum kursieren. Hier drei gängige Beispiele.

Mythos 1: „Die DDR war in den 1980er Jahren wohlhabender als Großbritannien"

Dieser Satz, der auch im Westen bis zur Wende verbreitet war, spiegelt viele interessante Facetten wider, was an Gedankengut über die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft kursiert. Die DDR wurde und wird häufig als moderner Industriestaat dargestellt, es war auch in westdeutschen Magazinen immer wieder von der „zehntstärksten Industrienation der Welt" die Rede, deren industrieller Kern nach der Wende „verspielt" oder „verschenkt" worden sei.

Eigentlich müsste man es besser wissen. Von der ökologischen Katastrophe abgesehen, war die DDR 1989 völlig bankrott: Der ungeschminkte Bericht von Ende Oktober 1989 des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, an das Politbüro des ZK der SED zeigt eindrucksvoll, dass das System am Ende war.

Falls die DDR mit ihrer explodierenden Westverschuldung fortbestehen solle, so Schürer, müsste der Lebensstandard „um 25-30%" gesenkt werden, was allerdings „die DDR unregierbar machen" würde. Ganz ähnlich urteilt der wichtigste praktische Ökonom an der DDR-Spitze, Günter Mittag, der jahrzehntelang Sekretär für Wirtschaftsfragen beim ZK der SED war.

In seinen 1991 erschienenen Memoiren beschreibt er in aller Ausführlichkeit, dass die DDR schon Anfang der 1980er Jahre vor dem Ruin stand, der nur durch die galoppierende Westverschuldung aufgeschoben wurde. Auch was den Kapitalstock der DDR-Industrie anbetrifft, so fällt Mittag ein vernichtendes Urteil: Er stellt ihn als (von Ausnahmen abgesehen) allgemein veraltet und durch den Investitionsstau der Honecker-Ära absolut marode dar.

Mythos 2: „Das war nicht der wahre Sozialismus. Das Scheitern lag an menschlichem Versagen da oben"

Diese Aussage ist im gesamten ehemaligen Ostblock verbreitet - das will ich als Bulgare behaupten, der auch Russisch lesen kann. Die These besagt, dass es die individuellen „Entartungen" oder die menschlichen „Schwächen" der damaligen Elite gewesen sind, die das System in den Ruin getrieben hätten und nicht die systemimmanenten Tendenzen.

Sicherlich: Die Schuld und die eklatanten Vergehen der SED-Führungsriege stehen außer Frage. Auch ist richtig, dass die massive Überalterung der politischen Spitze und die Abschottung gegenüber der jüngeren Elite die Inflexibilität im System verstärkt haben. Aber die allgemeine Frage lautet, ob die systemimmanente Logik Reformfähigkeit zuließ.

Die Erfahrungen mit dem im Vergleich zum Stalinismus der 1950er Jahre einigermaßen liberalen Reformansatz des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung" in den 1960er Jahren zeigen eins ganz deutlich: Trotz des Rückhalts seitens des ersten Mannes im Staat, Walter Ulbricht, erwies sich die Wirtschaftsordnung der DDR-Planwirtschaft kaum mit dem Bestreben nach Dezentralisierung, Leistungsorientierung und individuellen Anreizen kompatibel.

So muss es als ein Verzweiflungsakt der ökonomischen Führung erscheinen, wenn sich Schürer im Oktober 1989 wieder von ähnlichen, diesmal aber „sofortigen" Reformen hin zum Umbau des zentralen Planungsmechanismus eine Rettung der DDR-Wirtschaft erhofft.

Wie zahlreiche ordnungsökonomische Studien zum Systemvergleich zeigen, ist die Planwirtschaft nur sehr rudimentär mit marktwirtschaftlichen Elementen kombinierbar: Auch Länder wie Ungarn, die für ihre marktsozialistischen Experimente viel Lob bekommen hatten, waren 1990 nicht minder bankrott als die stark zentralistisch geführte DDR. Das System ist also überall im Ostblock gescheitert, trotz der unterschiedlich zusammengesetzten Eliten und der unterschiedlichen Reformbestrebungen in den einzelnen Ländern.

Mythos 3: „Die DDR wurde im Rahmen des Ostblocks ausgebeutet"

Häufig wird die These vertreten, dass die DDR im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW/Comecon), also des Ostblocks-Außenhandelsgeflechts, nicht fair behandelt wurde und deshalb aufgrund der schlechten Außenhandelsbedingungen gescheitert sei.

Richtig daran ist, dass die erheblichen Reparationsleistungen in den frühen Nachkriegsjahren, die u.a. in Form von Industrie-Demontage Richtung Sowjetunion vorgenommen wurden, sehr viele industrielle Wunden hinterlassen haben. Auch ist wahr, dass die DDR am Anfang keine guten Außenhandels-Voraussetzungen im Vergleich zur Bundesrepublik aufwies, weil sie von den gewachsenen industriellen Beziehungen, insbesondere vom Ruhrgebiet, auf einen Schlag abgeschnitten wurde.

Aber ist das wirklich ein Grund für das Scheitern? Drei Aspekte sprechen dagegen. Erstens war der RGW, auch in Mittags Darstellung, überhaupt nur zu sehr rudimentärer Arbeitsteilung imstande. Die Unfähigkeit von Planwirtschaften zum effektiven Betreiben von Handel miteinander und ihre damit einhergehende Tendenz zur Abschottung wurden von Ökonomen der Österreichischen Schule schon sehr früh, bereits in den 1920er Jahren, theoretisch thematisiert.

Zweitens war die DDR in den späteren Jahrzehnten, auch in den Augen der Sowjetunion, ein Aushängeschild des Sozialismus, als „äußerster Vorposten" des Systems in Mitteleuropa. Diese Perspektive wusste die DDR-Führung häufig zu instrumentalisieren, um beim „großen Bruder" bspw. günstige und/oder größere Rohstofflieferungen zu erbitten.

Man wollte schließlich keinen zweiten 17. Juni, auch keine „polnischen Verhältnisse". Erst Gorbatschow hat dieses „Aussaugen" der Sowjetunion durch die RGW-Staaten unterbunden. Drittens hatte die DDR in ihrem Außenhandel einen einmaligen Vorteil im Vergleich zu den übrigen „Brüderstaaten": den innerdeutschen Handel.

Dieser spielte eine immer größere Rolle, sowohl was die heiß begehrten Konsumgüter für die Bevölkerung, als auch was die technologisch wichtigen Investitionsgüter für die Betriebe anbetrifft. Es lässt sich also sogar die These aufstellen, dass die DDR nicht wegen, sondern trotz des Außenhandels gescheitert ist.

Die Herausforderungen nicht nur für die Soziale Marktwirtschaft, sondern für den demokratischen Rechtsstaat insgesamt sind in unserer Zeit überlappender Krisen gewaltig. Ganze gesellschaftliche Schichten haben sich bei den Landtagswahlen dieses Herbstes entweder ganz aus dem politischen Prozess verabschiedet oder sich fragwürdigen Strömungen zugewandt.

Bei allem Verständnis für viele gebrochene Lebensläufe und für aus unrealistischen Versprechen entstandene Enttäuschungen sind die vergangenen 25 Jahre für die Neuen Länder ein Glücksfall gewesen - auch das will ich als Bürger eines ehemaligen „Brüderstaates" sagen, der zeitgleich ganz andere 25 Jahre in seiner Heimat erfahren hat.

Die Rattenfänger der Geschichtsklitterung und ihre Mythen, die - von links und rechts - Träume einer radikal anderen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wecken, verdienen es, in der zutreffenden Wortwahl Wolf Biermanns auch argumentativ angegriffen zu werden.

Die trennende Mauer löst Trauer bei mir aus

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„Was meine eigenen Augen zu sehen glauben und hören, kann doch nur ein Traum sein", erzählt meine Geschichtslehrerin im Unterricht. „Mein Mann und ich haben im Fernsehen Menschen auf der Mauer - vor dem Brandenburger Tor - feiern sehen. Das ist unser Symbol der Einheit. Unglaublich - wie in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 mitten in Berlin der Kalte Krieg zwischen Ost und West mit einer riesigen Straßenfeier zu Ende geht. Menschen stehen zwischen den Säulen. Darüber ist die angestrahlte Quadriga zu sehen. Von 1961-1989 ist dieses Symbol deutscher Geschichte von der Mauer für uns Braunschweiger versperrt geblieben. 28 lange Jahre."

Im November 1989 bin ich 14 Jahre alt gewesen. Ich habe meiner engagierten Geschichtslehrerin gerne zugehört, weil sie authentisch ihre Erlebnisse mit ihren Verwandten aus Ost-Berlin uns Schülern damals erzählt hat. „Geschichtsunterricht muss hautnah sein", erinnere ich mich an ihre Worte.

Deshalb hat sie im Oktober 1989, kurz vor dem Mauerfall, eine Rundfahrt am damaligen Grenzübergang Helmstedt-Marienborn organisiert, was ein wichtiger Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze gewesen ist.

„Murat, du schreibst den Bericht für die Schülerzeitung. Deshalb führst du das Interview mit einem Polizisten dort. Braunschweig und Helmstedt sind nah beieinander, so dass du für ein Zweitgespräch von Braunschweig problemlos jederzeit wieder mit dem Zug dort hinfahren kannst."

Ich sollte ebenso neben den Stationen das Zusammenprallen der verschiedenen Staats- und Wirtschaftssysteme dokumentieren. Vor meinem Interview habe ich recherchiert, dass 1945 die Panzer der Roten Armee am Brandenburger Tor vorbeigerollt sind. Im Jahr 1953 haben die Machthaber in Ostberlin den Aufstand des 17. Juni dort blutig niedergeschlagen.

In Büchern habe ich gelesen, dass die Berliner Mauer während der Teilung Deutschlands ein hermetisch abriegelndes Grenzbefestigungssystem der Deutschen Demokratischen Republik gewesen ist und seit dem 13. August 1961 bestanden hat. Die 160 Kilometer lange Grenze um West-Berlin hat die Stadt gespalten und Familien, Freunde, Nachbarn voneinander getrennt.

Als wir Mitte Oktober 1989 morgens um 8:30 Uhr am Braunschweiger Bahnhof gestanden haben, ist es ein wenig später losgegangen. Der Zug ist langsam angerollt, und wir sind kurze Zeit danach eingestiegen. Wir haben aus Braunschweig keine halbe Stunde Fahrtzeit gehabt und sind in Helmstedt angekommen.

Ich habe die Grenzschützer dort noch gut im Kopf. Ihre unbewegten Gesichter haben eine sehr ernste Miene gehabt. „Murat, ich stell dich mal dem Polizisten vor. Besonders spannend finde ich, dass du eine türkische Herkunft und nicht - wie die meisten anderen Schüler - Verwandte in Ost-Deutschland hast. Ich freue mich auf deinen Artikel."

Bevor ich den Polizisten angesprochen habe, hat mir der Blick auf meinen Fragebogen geholfen. „Finden Sie es nicht ungerecht, dass DDR-Bürger einen Pass mit Visum brauchen? Wie unterscheiden sich die Pässe von einem Braunschweiger und einem beispielsweise Ost-Berliner? Ich habe im Osten keine Verwandten, aber die Erzählungen meiner Geschichtslehrerin verursachen tiefe, emotionale Empfindungen, eine gefühlt merkwürdige Solidarisierung, die fast meine Kehle eingeschnürt hat. Die trennende Mauer löst Trauer bei mir aus."

Die Antworten vom Polizisten kommen prompt: „Meine Eltern leben in Ost-Berlin und haben einen anderen Pass. Wenn sie mich in Helmstedt besuchen wollen, beantragen sie ein Visum. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass die Mauer schnell abgerissen wird. Grenzübergänge ermöglichen und keine weiteren Passkontrollen. Das wünsche ich mir zutiefst."

Ein paar Stunden später sind wir nach Braunschweig zurückgefahren. Ende Oktober 1989 habe ich den Polizisten für ein zweites Gespräch wieder getroffen. Ich erinnere mich an meine Notizen für die Schülerzeitung noch heute ganz gut.

Als ich Mitte November 1989 den fertigen Bericht an meine Lehrerin gegeben habe, hat sie Tränen in den Augen gehabt. „Wir gehören alle zusammen. Deinen Bericht werde ich mir einrahmen", hat sie noch über ihre Lippen gebracht und mich für ein paar Sekunden umarmt.

Was für ein Volk wollen wir sein?

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"Wir sind das Volk", riefen die Demonstranten im Herbst 1989 in Leipzig auf den Montagsdemos. Im Januar 1990 riefen sie schon: "Wir sind ein Volk". Fühlten Sie damals ähnlich wie die Demonstranten, dass die Deutschen in Ost und West wieder ein Volk sein sollten?

Damals fühlte sich ja jeder Tag wie drei oder vier Tage an. Wenn Sie also "damals" sagen, müssen wir uns genauer fragen: Wann eigentlich? Die Dinge hatten sich ja exponentiell beschleunigt. Bevor nämlich in der damaligen DDR der Ruf "Wir sind ein Volk" laut wurde, kam der nach Wiederherstellung der Länder. Die DDR hatte in den 1950er-Jahren die Länder quasi abgeschafft, die es 1949 noch gab, und die Bezirksstruktur eingerichtet. Fahnen der einstigen Bundesländer, also zum Beispiel aus Sachsen, durften nicht gezeigt werden.

Bevor also die schwarz-rot-goldene Fahne ohne Hammer und Sichel gehisst wurde, war es in Sachsen die sächsische Fahne. Man wollte wenigstens als einen Teil demokratischer Entwicklung - da dachte man noch nicht an die deutsche Einheit - die Wiederherstellung der Länder.

Die Bezirksstruktur der DDR war längst in den Herzen der Bürger der DDR gescheitert. Erst kurz danach kam dann der Ruf: "Wir sind ein Volk." Das haben wir, ich jedenfalls, zunächst noch für ziemlich gefährlich gehalten.

Warum?

Aus der Sorge heraus, dass ein Ruf nach deutscher Einheit, wenn er zu schnell und unvorbereitet kommt, zu einer sowjetischen Reaktion führt, die die Prozesse erstickt. Diese Rufe kamen schon vor dem Mauerfall, im Oktober 1989.

Die sowjetische Reaktion, nicht einzugreifen, war nach dem Gorbatschow-Besuch am 7. Oktober erwartbar, aber nicht ganz sicher. Die letzte Gewissheit gab es erst am Abend des 9. November - auch nach einem Telefonat von Helmut Kohl mit Michael Gorbatschow.

Am Anfang hielten wir bei den Rufen "Wir sind das Volk" und "Wir sind ein Volk" den Atem an, denn wir wussten nicht, was das für den sowjetischen Machtbereich, um den alten Ausdruck noch mal zu verwenden, bedeutet. Ich selbst habe dann sehr schnell, weil ich immer ein Anhänger der deutschen Einheit war, gesagt: Das ist jetzt eine Chance.

Die sofort wahrgenommen werden musste?

Ich habe mit sehr viel längeren Zeiträumen gerechnet. Helmut Kohl hat die Sache dann durch den 10-Punkte-Plan im November 1989 vor dem Bundstag, und später durch seine Rede vor der Dresdner Frauenkirche, beschleunigt. Aber selbst die Regierung von Lothar de Maizière war sich über den Zeitplan ebenso wenig im Klaren wie die Bundesregierung.

Da gibt es die schöne Geschichte, dass der Zeitplan in den Koalitionsvereinbarungen der Regierung Lothar de Maizière mit den Sozialdemokraten, der DSU und der FDP umstritten war. Die Diskussion reichte von zehn Jahren bis sofort.

In seiner Regierungserklärung im April 1990 sagte Lothar de Maizière: "Wir hoffen, dass wir 1992 bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona wieder eine deutsche Mannschaft haben werden."

Sportbegeisterte werden sich daran erinnern, dass es trotz zweier deutscher Staaten noch bis 1964 eine gemeinsame deutsche Olympiamannschaft gab. So unpräzise waren also die zeitlichen Vorstellungen, die man damals haben konnte.

Hat Helmut Kohl mit Gorbatschow vor der Pressekonferenz mit Schabowski gesprochen oder danach?

Danach. Er war selber überrascht von der Entwicklung. Nachdem er mit Michail Gorbatschow gesprochen hatte, war klar, dass die Sowjetunion die Öffnung der Mauer nicht mehr verhindern wird.

Viele konnten sich an diesem historischen Tag gar nicht vorstellen, dass die Grenze offen bleibt in Ostberlin.

Das mag sein. Wir waren ja alle überrascht von der Dynamik. Und in diesem Zusammenhang muss ich jetzt auch mal die ARD loben: Die standen nach der Pressekonferenz an den Grenzübergängen und fragten in die Kameras: "Wann kommen sie denn? Wann sind denn die Ersten da?"

Das löste einen Sogeffekt in Berlin aus, ohne den es vielleicht diese schnelle Öffnung durch einen Offizier der Grenztruppen am 9. November nicht gegeben hätte. Dann kamen so viele, und zwar nicht nur in Berlin, sondern an der ganzen innerdeutschen Grenze, dass eine Schließung der Grenze nicht mehr möglich war. Das wäre dann schon das faktische Ende der Regierung der DDR gewesen.

Wie haben Sie den 9. November erlebt?

Ich war Pressesprecher der Westberliner CDU und saß zu Hause. Ich habe damals jeden Abend die Aktuelle Kamera gesehen, weil das oft spannender war als die Tagesschau.

Das ist ja erstaunlich!

Ja, vor allen Dingen in der Kombination mit der Tagesschau war interessant, wie die Entwicklungen dort geschildert wurden. Ich habe dann die Live-Pressekonferenz von Schabowski gesehen und anschließend mit meinem damaligen Chef Eberhard Diepgen eine Presseerklärung vorbereitet.

Eberhard Diepgen ist ein Berliner Junge aus dem Wedding. Der hat mir dann den Satz diktiert: "Das ist der Tag, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe." Das hat mich richtig gerührt.

Bereits am 10. November wollten uns dann viele in Berlin besuchen. Freunde aus Bonn hatten bereits vorher einen Flug nach Berlin gebucht und hätten für diese Tickets das Zehn- bis Zwanzigfache auf dem Schwarzmarkt bekommen können. Sie wollten aber selbst Geschichte erleben.

Vom Fall der Berliner Mauer bis zur Wiedervereinigung vergingen nur knapp elf Monate. Wie lange braucht denn ein Volk wirklich, um ein Volk zu werden?

Je länger die Teilung dauerte, desto mehr fürchteten wir, dass wir getrennte Völker zu werden drohten und eine gemeinsame deutsche Nation nur noch ein Wunschdenken sein könnte. Als dann der Einigungsprozess anstand, sind viele in das andere Extrem umgeschwenkt und sagten: Das ist eine Sache von ein, zwei Jahren, die Mentalität ist doch die gleiche, wir sind doch Deutsche. Dabei haben wir eine gewisse Form von Entfremdung im Laufe der Jahre unterschätzt.

Aber ich will noch einen anderen kritischen Punkt ansprechen: Es war zu dieser Zeit viel von Übernahme, Beitritt als Quasi-Kolonialisierung die Rede. In meiner Erinnerung ist das so, dass das zwar im Westen viele so sahen, aber auch in der DDR ganz viele sagten: Wir wollen die Einheit jetzt. Wir wollen genauso werden wie der Westen. Nur einige Intellektuelle hielten dagegen: Wir suchen den dritten Weg.

Wie sollte der aussehen?

Das ganze Selbstbewusstsein der Revolution sollte nicht plötzlich in Anpassung umschwenken. Das führte leider wiederum zu dem nächsten Rückschlag Anfang der 1990er-Jahre, als eine neue Form von Entfremdung entstand nach dem Motto: Wir sind ja doch gar nicht so dicht zusammen.

Da entstanden auch erst die kritisch gemeinten Begriffe "Ossi" und "Wessi". Die Wessis seien überheblich und die Ossis undankbar. Der Keim dafür lag in überspannten Erwartungen der ersten Monate nach dem Mauerfall.

Dieses Wort "Beitrittsgebiet" bedeutete für die DDR-Bürger: Wir werden jetzt beigetreten.

Das ist richtig, aber es war der korrekte verfassungsrechtliche Begriff. Ich will aber auch daran erinnern, dass ab dem 17. Juni 1990, und das war ja nicht lange nach der Regierungsbildung von Lothar de Maizière, es in nahezu jeder Sitzung der Volkskammer einen Antrag gab: Sofortiger Beitritt der DDR - ohne Einigungsvertrag und ohne Rücksicht auf die außenpolitischen Aspekte. Ich war ja dabei.

Es hat mehrfacher Rücktrittsdrohungen durch den Ministerpräsidenten Lothar de Maizière bedurft, um eine Mehrheit dafür in der Volkskammer zu verhindern. Im Nachhinein klingt das alles irgendwie so aufgedrückt, aber viele wollten eben keine lange Übergangsregierung mehr.

Es gab kein Vertrauen mehr.

Richtig. Keiner wusste, wie lange Gorbatschow noch im Amt ist, ob er die Kraft hat, das auszuhalten. Und mit der D-Mark in der Hand meinten viele: Wozu brauchen wir jetzt noch den Einigungsvertrag?

Ich hielt die damalige Gefühlslage für falsch. Wir brauchten dringend den Einigungsvertrag. Wir brauchten dringend die Zeit. Wir brauchten auch im Interesse Deutschlands dringend den außenpolitischen Zwei-plus-Vier-Vertrag, der auch nicht ganz leicht zu verhandeln war.

Im Nachhinein heißt es leider oft: Das war ein überstülpter Beitritt, aber große Teile der DDR-Bevölkerung wollten exakt das. Es hat vieler Bemühungen von Lothar de Maizière und anderer bedurft, um eine Sturzgeburt der Einheit zu verhindern.

In Leipzig wurde schon 1990 gerufen: "Kommt die D-Mark, bleiben wir hier, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr."

Das war im April, Mai, Juni 1990.

Schon da war klar, dass die materialistischen Wünsche nach Veränderung stärker waren als die idealistischen Gedanken einer Veränderung.

Richtig. Die Hoffnung, dass es keine Abwanderung in den Westen mehr geben wird, wenn sicher ist, dass die Mauer aufbleibt, war ein Trugschluss. Die Zahl der Übersiedler nahm sogar zu, gerade weil viele sagten: Das mit dem dritten Weg wollen wir nicht.

Lothar de Maizière sagte zur Wiedervereinigung: "Es ist ein Abschied ohne Tränen." Sehen Sie das heute auch so?

Ich war bei seiner Rede dabei und auch an der Vorbereitung beteiligt. Es war historisch einmalig, dass ein Regierungschef freiwillig und mit der Zustimmung der ganzen Bevölkerung einen Staat aus der Geschichte verabschiedet. Mit Hurra war es nicht.

Es war mit großer innerer Zustimmung, aber doch auch mit mancher besorgter Frage: Wie wird es wohl weitergehen?

Bärbel Bohley sagte 1991 in einem Interview: "Wir wollten Gerechtigkeit und Freiheit, und wir bekamen den Rechtsstaat."

Der Rechtsstaat ist mühsam, aber funktioniert besser als der Runde Tisch. Eine Revolution ist immer illusionär. Zu glauben, dass man mit dem Schwung einer Revolution und der großen Vision nach Freiheit in den Mühen der Ebene bestehen kann, ist unrealistisch.

Es fanden vor der Regierungsbildung viele Runde Tische statt, die es besser machen wollten als die Kommunalverwaltungen. Das alles war kurzfristig hilfreich. Viele Theologen leiteten die Runden Tische mit großem Verdienst.

Das Ergebnis war aber, dass die Bürger nach einer Weile fanden: "Könnt ihr nicht mal zu Potte kommen? Könnt ihr nicht mal Entscheidungen treffen? Ich bin mit der Entscheidung des Runden Tisches nicht einverstanden, kann ich mich irgendwo beschweren?" Dadurch nahm die Autorität der Runden Tische dramatisch ab. Sie können eine Baugenehmigung eben nicht am Runden Tisch entscheiden.

Eine aktuelle Studie besagt, dass die übergroße Mehrheit aller Deutschen mit ihrem Land noch nie so zufrieden war wie gerade jetzt. In anderen europäischen Ländern sind die Menschen voller Sorge, was die Entwicklung in ihren Ländern betrifft. Welche Aufgabe kommt Deutschland, das die Wiedervereinigung so gut gemeistert hat, jetzt bei der Vereinigung von Europa zu?

Zunächst heißt es ja nicht, wenn die Mehrheit der Deutschen mit ihrem Land zufrieden ist, dass wir keine sozialen und sonstigen Probleme hätten. Wir leben nicht auf einer Insel der Seeligen. Wir sind weder eine große Schweiz noch Costa Rica.

Margot Käßmann hat ja unlängst vorgeschlagen, wir sollten die Bundeswehr abschaffen wie Costa Rica. Das ist kein erstrebenswertes Ziel. Wir sind eine, wie man sagt, europäische Mittelmacht. Wir spielen in einer Liga mit Frankreich, Großbritannien, Italien und Polen. Das ist auch richtig so. Das ist unser politischer Platz.

Das bedeutet einerseits einen gewissen Führungsanspruch, den, glaube ich, Deutschland auch in der Eurokrise erfolgreich ausgefüllt hat, andererseits aber auch Verantwortung. Wir haben im Grundgesetz in Artikel 14 die schöne Bestimmung, dass Eigentum verpflichtet. Es soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Daraus verallgemeinere ich jetzt: Reichtum und Wohlstand verpflichten auch international. Zumal unser Wohlstand auch international verdient ist. Deswegen können wir uns aus Konflikten nicht heraushalten.

Um noch einmal auf das historische Datum 25 Jahre Fall der Mauer zurückzukommen: Die Bundekanzlerin Angela Merkel und der Bundspräsident Joachim Gauck sind zwei Politiker, die nicht in einer Demokratie geboren, sondern in eine Demokratie hineingewachsen sind.

Frau Merkel ist zwar in Hamburg geboren ...

... aber in der DDR aufgewachsen und sozialisiert. Wie können Sie sich erklären, dass die Bürger dieses Landes, in dem noch immer Animositäten gegenüber Ostdeutschen bestehen, die Verantwortung trotzdem in die Hände zweier Politiker geben, die in der DDR ihre hauptsächlichen Erfahrungen machten?

Weil beide gut sind. Angela Merkel hat sich das ebenso wie Joachim Gauck erarbeitet. Ich weiß noch, wie es hieß: Das Mädchen aus dem Osten, die kann es nicht. Heute ist sie eine in der ganzen Welt anerkannte Regierungschefin. Es sollte auch eine Mahnung an uns sein, dass wir Menschen, auch wenn sie in diesen Tagen und Wochen aus anderen Ländern zu uns kommen, nicht vorschnell mit einem Stempel versehen.

Sie haben Ihren Lebensmittelpunkt inzwischen in Sachsen. Fühlen Sie sich nun als Deutscher oder als Sachse?

Sie spielen an auf die Ost-West-Mentalität mit Wossi und so weiter. Bei mir ist es insoweit ungewöhnlich, weil ich auch in der alten westdeutschen Bundesrepublik keine spezifische Heimat hatte. Mein Vater war Soldat und wir sind oft umgezogen.

Ich bin in Bonn geboren, ging in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und in Nordrhein-Westfalen zur Schule. Danach studierte ich in Münster und habe in Berlin (West) meine beruflichen Anfänge genommen.

Ich hatte also, bis wir nach Sachsen gegangen sind, keine Heimat, regional gesehen. Das ist untypisch für deutsche Biografien. Mittlerweile kann ich aber sagen, ohne mich da irgendwie aufdrängen zu wollen, dass wir, meine Familie und ich, in Sachsen zu Hause sind. Sachsen ist unsere Heimat. Aber deswegen bin ich kein Sachse. Und: Ich fühle mich gut als Deutscher.

Was wünschen Sie sich für Deutschland in 25 Jahren?

Das Interview begann mit den berühmten Sätzen: "Wir sind das Volk" und "Wir sind ein Volk". Ich möchte die nächsten Monate bis zum 9. November 2014 und bis zum 3. Oktober 2015 nutzen, um im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel "Deutschland 2015: Unser Land - unsere Zukunft" die Frage zu stellen: Welches Volk wollen wir heute sein? Welches Volk wollen wir in 25 Jahren sein?

Ich wünsche mir ein Volk, das sich in voller Kenntnis und Verantwortung vor unserer Geschichte selbstbewusst dazu bekennt, Deutsche zu sein, auch wenn die Menschen unterschiedlicher Herkunft sind.

Ich wünsche mir außerdem, dass wir das Geschenk der deutschen Einheit auch in 25 Jahren nicht vergessen haben und selbstbewusst und verantwortlich unsere Rolle in Europa und in der Welt akzeptieren und annehmen.

Dieses Interview ist ursprünglich beim Nitro-Magazin erschienen.

Ein Gefühl der Freiheit

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Am 9. November 1989 war ich mit meiner heutigen Ehefrau in Lüneburg, wo ich mich gerade aus beruflichen Gründen aufgehalten habe. In unserem Hotel sahen wir dann im Fernsehen, wie der ZDF-Korrespondent die Öffnung des Grenzübergangs verkündete.

Mir standen die Tränen in den Augen. „Warum weinst du?", fragte meine heutige Frau. Ich war mir zunächst nicht ganz sicher. „Das muss wohl doch etwas Anderes sein, als würden die Grenze zwischen Nord- und Südkorea fallen", sagte ich.

Es war klar, jetzt ist der Zaun weg. Mich ergriff ein Gefühl der Freiheit, obwohl ich eigentlich nicht selbst betroffen war. Für mich war die DDR weit weg, nicht mehr Deutschland, eine eigene Nation. Nachdem ich mich wieder etwas gesammelt hatte, wollte ich dorthin. Sechs Tage später war ich dann in Rostock und traf den neu gewählten Bezirksvorstand der Liberaldemokratischen Partei.

Das großartige Ereignis des Mauerfalls und die turbulenten Wochen im Anschluss haben mich noch einmal ermutigt, mein politisches Engagement in der sich zusammenfindenden Bundesrepublik zu verstärken. Und so wurde ich wenige Monate später Abgeordneter im ersten gesamtdeutschen Bundestag für die FDP, die im Jahr 1990 durch das unermüdliche Wirken ihres Außenministers Hans-Dietrich Genscher für die Wiedervereinigung eines der besten Wahlergebnisse ihrer Geschichte eingefahren hatte.

Auch wenn es viele Menschen heute nicht mehr glauben: Der Mauerfall hat sehr vielen „West-Biografien" eine entscheidende, positive Wendung gegeben. So auch meiner.

1989: Das Jahr, in dem ich politisch geworden bin

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Den Sommer 1989 habe ich als Jugendlicher mit meiner Familie am Plattensee verbracht. Es war ein heißer Sommer, und es war der Sommer, in dem ich politisch geworden bin. Der "Wind of Change" - musikalisch erst ein gutes Jahr später von den Scorpions vertont- lag spürbar in der Luft.

Der Dauerohrwurm des Sommers war allerdings das beschwingte "Verdammt ich lieb dich!" von Matthias Reim, das einem nach 16 Wochen an der Chartsspitze gefühlt schon aus den Ohren rausquillte. Ungarn war für DDR- wie auch Bundesbürger ein beliebtes Urlaubsgebiet.

Die Durchlässigkeit der ungarischen Grenze Richtung Österreich und die spannungsgeladene Situation zwischen Ost und West war auch bei uns Thema am Mittagstisch. Als 13-jähriger hatte ich bereits begonnen, mich zaghaft für Politik zu interessieren.

Die Fernsehbilder aus der Deutschen Botschaft in Prag mit den klingenden Worten von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher an die Ausreisewilligen "Ich komme zu Ihnen mit der Nachricht, (...)" verursachen heute noch Gänsehaut bei mir.

Als Jugendlicher hatte ich mit meiner Familie im südlichen Niedersachsen gewohnt. Mit meinem Vater war ich des Öfteren am nahe gelegenen Grenzübergang Duderstadt, der vor der Wende für Reisewillige das Tor in den Osten war. Als die Mauereröffnung und die friedliche Revolution im November und den folgenden Wochen und Monaten erfolgte, bin ich tage- und nächtelang Nachrichtenjunkie gewesen und war vom Fernseher kaum noch wegzukriegen.

Gut erinnern kann ich mich noch an eine erste Reise mit meinen Eltern von Oberösterreich nach Tschechien kurz nach der Wende. Auf einem der damals zahlreich entstehenden Straßenmärkte habe ich eine LP von Bob Dylan gekauft. The Times They Are A 'Changin war ohnehin für mich der bessere Sound als "Wind of Change".

Soweit meine kleinen bescheidenen Erinnerungen. Welch ein Glück, dass wir diesen friedlichen Wandel erleben durften.

Flug in die Freiheit

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Peter sitzt mit seinem Arbeitskollegen Günter draußen auf einer Bank und packt sein Butterbrot aus. Sie schweigen und kauen genüsslich, bis es auf einmal aus Peter herausplatzt: „Günter, ich will raus. Ich ertrage es nicht mehr, dass die Regierung uns keine Freiheiten lässt. Ständig müssen wir aufpassen, was wir sagen. Ich will mit meiner Familie in Freiheit leben!"

Kollege Günter nickt eifrig. „Ich komme mit. Aber wie stellen wir es nur an? Die Mauer ist sehr hoch und viele Wächter passen auf, dass keiner fliehen kann!"

„Toll, dass du dabei bist! Ich weiß noch nicht wie, aber zusammen finden wir einen Weg!", sagt Peter entschlossen.

In den nächsten Tagen kreisen die Gedanken der beiden nur um eines: die Flucht. Wie in aller Welt kann man bloß diese Mauer überwinden?

Zum Drüberklettern ist sie viel zu hoch. Außerdem ist überall Stacheldraht und die Wachen laufen Tag und Nacht auf und ab.

Als Günter am Abend nach Hause kommt, wartet Besuch auf ihn: Peter ist da und Laura, die Schwester seiner Frau Petra. Laura war rechtzeitig vor dem Mauerbau in den Westen gezogen, ab und zu kommt Sie zu Besuch.

Denn die Menschen im Westen dürfen ihre Verwandten im Osten besuchen, nur nicht um gekehrt.

Es gibt ein großes Hallo und zusammen grillen sie im Garten. Nach dem Essen gibt es ein paar Geschenke für alle. Süßigkeiten für die Kinder und für die Erwachsenen ein paar interessante Zeitschriften, die im Osten eigentlich verboten sind.

Günter und Peter blättern die Zeitungen durch, bis sie auf einem Titelbild einen Heißluftballon entdecken. Da kommt ihnen die zündende Idee...

Die zwei wollen ihre Idee aber zuerst unter vier Augen besprechen, bevor sie ihre Frauen von dem Plan erzählen.

Es ist bereits dunkel, die Kinder schlafen schon, als Günter und Peter es nicht mehr aushalten: „Petra, Doris! Wir wollen weg. Raus aus der DDR. Wir haben auch schon eine Idee, wie wir es anstellen!", erklären sie mit funkelnden Augen.

„Was? Los, erzählt schon!", entgegnet Doris aufgeregt.

„In Lauras Magazin habe ich heute von einem großen, fliegenden Heißluftballon gelesen. Wir könnten auch einen bauen und damit über die Mauer fliegen!", erklärt Günter.

Doris weiß nicht recht: „Das klingt aber sehr schwierig. Wie können wir so einen Ballon bauen und wie funktioniert der überhaupt?"

Günter macht eine Handbewegung, als würde er die Bedenken der anderen einfach wegwischen.

Am nächsten Morgen sitzen alle in der Küche beisammen und Günter erklärt, wie so ein Heißluftballon überhaupt funktioniert: „Ein Heißluftballon fliegt, weil warme Luft immer nach oben steigt. Man spannt einen großen Ballon über einen Korb, in dem dann die Passagiere sitzen. Den Ballon füllt man mit Luft. Je heißer die Luft, desto höher steigt der Ballon."

Als Günter fertig ist, sind auch die letzten Zweifel beseitigt.

Schnell wird klar: Wenn die Aktion klappen soll, müssen alle mithelfen.

Gesagt, getan. Günter näht Stoffe zu einer riesigen Matte zusammen. Diese wird über einen selbstgebauten Korb, der aus einer Blechplatte und Wäscheleinen besteht, gespannt.

Peter kennt sich gut mit Autos aus. Er schafft es aus einem Ofenrohr und einer Propangasflasche eine Vorrichtung zu bauen, die von unten warme Luft in den Ballon bläst.

Als der Ballon fertig ist, treffen sich die Familien nachts auf einer Waldlichtung. Sie wollen den Ballon zunächst einmal testen. Sie versuchen den Ballon aufzublasen, doch es will nicht so recht gelingen. Irgendetwas stimmt nicht. Aber was?

Günter, der sich in seiner Freizeit viel mit Physik und Technik beschäftigt, hat irgendwann die Lösung gefunden: der Stoff, den sie für den Ballon verwendetet hatten, ist zu luftdurchlässig. Günter, beginnt mit einigen anderen Stoffen zu experimentieren, bis der richtige gefunden ist.

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Alle sind erleichtert, nun kann es wirklich losgehen. In nächtlichen Aktionen werden viele Bahnen Stoff aneinandergenäht. Eine ganz schön anstrengende Arbeit, alle helfen mit, denn sie wollen ihren Plan so schnell wie möglich in die Tat umsetzen!

Endlich - nach wochenlanger Arbeit - ist der Ballon fertig. Heimlich packen alle ihre Sachen zusammen, schließlich darf keiner etwas bemerken. Nur der leiseste Verdacht der Polizei könnte sie alle ins Gefängnis bringen.

Trotzdem fällt es allen sehr schwer, ihre Aufregung zu verbergen. Wenn alles klappt, sind sie in ein paar Stunden in Sicherheit!

Als die Sonne untergeht, brechen sie auf. Mit dem Ballon im Gepäck fahren sie aufs Land. Günter kennt eine Lichtung im Wald, von der sie hoffentlich ungestört abheben können.

Keiner sagt auch nur ein Wort während der Fahrt, jedes Mal wenn ihnen ein Auto entgegen kommt halten sie den Atem an - ist das ein Polizeiauto? Ist der Plan trotz aller Vorsicht aufgeflogen?
Doch nichts passiert, sie kommen unbemerkt bei der Lichtung an.

Alle sind sehr angespannt. Hoffentlich schafft es der Ballon alle acht zu tragen, denn neben Günter, Peter und ihren Frauen, sollen ja auch die 4 Kinder mitkommen.

In Windeseile helfen alle, den Ballon auf der Lichtung aufzubauen.

Noch liegt der Ballon schlaff und kraftlos am Boden, nur langsam füllt er sich mit Luft. Das ist die kritischste Phase: Das Befüllen des Ballons ist laut. Denn Peters Vorrichtung funktioniert zwar einwandfrei, aber die selbstgebaute Maschine dröhnt weit hörbar durch den Wald und man muss befürchten, dass der Lärm gehört wird.

Ängstlich wartend stehen alle um Ballon herum, es kommt ihnen vor, als würde eine Ewigkeit vergehen.

Doch da - der Ballon hebt sich.

„Schnell jetzt, alle rein!", ruft Günter und hilft beim Klettern in den Ballon.

Als letzter springt Peter gerade noch rechtzeitig in den Korb. Durch das zusätzliche Gewicht neigt sich der wackelige Ballon kurz zur Seite und fängt an einer Seite Feuer.

Zum Glück reagiert Günter blitzschnell und löscht den Brand mit einem Feuerlöscher.

Trotzdem hat das Feuer ein kleines Loch im Ballon hinterlassen.

Günter und Peter blicken sich an, sie wissen, dass das ein Problem werden könnte. Denn durch das Loch entweicht Luft und der Ballon könnte nicht hoch genug steigen, um den wachsamen Blicken der Soldaten an der Grenze zu entgehen.

So sitzen alle zusammengekauert im Ballon, während der Wind die beiden Familien langsam Richtung Grenze treibt. Es ist bitterkalt so hoch in der Luft, Peter und Günter verteilen Decken.

Nach einiger Zeit geistert ein Scheinwerferlicht durch die dunkle Nacht - wurden sie entdeckt?

Doch alles bleibt ruhig, kein Gewehrfeuer zerreißt die Stille. Auch das Scheinwerferlicht ist bald nicht mehr zu sehen.

Langsam sinkt der Ballon. „Festhalten!", ruft Peter noch. Dann ein lautes Krachen, der Ballon streift Baumwipfel und geht unsanft zu Boden. Stille.

Mühsam rappelt sich Peter auf und befreit sich von Gestrüpp und Ästen.

„Alles klar, ist jemand verletzt?", schreit er ängstlich. „Alles klar!", hört er eine schwache Stimme neben sich - es ist sein Sohn.

Nach und nach erholen sich alle von dem Schock und - Gott sei Dank! - es ist niemand ernsthaft verletzt.

Trotzdem sind alle angespannt. Haben sie es wirklich über die Mauer in den Westen geschafft?

Peter und Günter beschließen die Gegend auszukundschaften. Doris, Petra und die vier Kinder bleiben erst einmal im Wald, wo sie sich verstecken.

Leise und vorsichtig durchstreifen Peter und Günter den Wald bis sie auf eine Straße stoßen. Alles ist dunkel und still. Sie laufen im Schutz der Bäume am Straßenrand entlang.

Plötzlich sehen sie ein Licht aus der Ferne, es ist ein Auto, ein Polizeiauto. Peter und Günter sind ängstlich, sollte das ein Auto der Volkspolizei sein? Aber nein, der Wagen ist ein bayrisches Polizeiauto. Sie halten den Wagen an, sie winken.

„Wir sind frei, wir sind frei!" die beiden liegen sich in den Armen: Nach den wochenlangen, kräftezehrenden Vorbereitungen und dem gefährlichen Flug sind sie im Westen gelandet.

Peter und Günter zünden eine Feuerwerksrakete. Das ist das Zeichen für Petra und Doris: sie haben es geschafft, sie sind in Sicherheit. Auch sie freuen sich, Tränen steigen vor Glück in ihre Augen.

Sie treten aus dem dichten Wald heraus. Das Polizeiauto nimmt sie erst einmal mit aufs Revier, wo es für die Kinder heißen Kakao und Kekse und für die Erwachsenen Tee und belegte Brote gibt.

Nun können sich beide Familien ein neues Leben in Freiheit aufbauen.

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9 Dinge, die erfolgreiche Menschen niemals tun

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In meinem letzten Beitrag, der offenbar einen Nerv getroffen hat, ging es darum, wie erfolgreiche Menschen es schaffen, stets die Ruhe zu bewahren. Die eigenen Gefühle im Griff zu behalten hängt ebenso sehr von dem ab, was man nicht tut, wie davon, was man tut.

Das Unternehmen TalentSmart testete über eine Million Menschen und fand dabei heraus, dass sich in den oberen Rängen der Erfolgreichen vor allem Menschen befinden, die über eine hohe emotionale Intelligenz verfügen: Ganze 90 % der Spitzenreiter zeichneten sich durch diese Eigenschaft aus. Also habe ich mir diese Daten etwas genauer angesehen, um herauszufinden, welche Dinge emotional intelligente Menschen tunlichst vermeiden und dadurch in jeder Situation gelassen, selbstbewusst und kontrolliert agieren. Erfolgreiche Menschen vermeiden ganz bewusst bestimmte Verhaltensweisen, denen man leider nur allzu schnell verfällt, wenn man nicht aufpasst.

Die folgende Liste ist zwar nicht erschöpfend, enthält jedoch neun wichtige Dinge, die Sie vermeiden sollten, um Ihre emotionale Intelligenz und somit auch Ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen.

Erfolgreiche Menschen lassen nicht zu, dass jemand anders ihre Freude trübt

Hängt das von Ihnen empfundene Maß an Freude und Zufriedenheit davon ab, wie Sie im Vergleich zu anderen abschneiden, sind Sie nicht länger Ihres Glückes Schmied. Wenn sich emotional intelligente Menschen über ihre Leistung freuen, lassen sie sich diese Freude nicht durch die Meinungen oder Leistungen anderer Menschen trüben.

Es ist so gut wie unmöglich, zu ignorieren, was andere von einem denken. Dennoch sollten Sie sich nicht mit anderen vergleichen oder deren Meinung vorbehaltlos akzeptieren. Auf diese Weise entsteht Ihr Selbstwertgefühl aus Ihnen selbst heraus und hängt nicht von anderen ab. Denn was auch immer andere Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt von Ihnen halten: Sie sind nie so gut oder so schlecht, wie andere denken.

Erfolgreiche Menschen vergessen nichts

Emotional intelligente Menschen vergeben schnell, aber sie vergessen nichts. Vergebung bedeutet, das Geschehene hinter sich zu lassen, um nach vorne blicken zu können. Vergebung bedeutet jedoch nicht, jemandem, der einen enttäuscht hat, eine erneute Chance zu geben. Emotional intelligente Menschen sind nicht bereit, sich unnötig von den Fehlern anderer nach unten ziehen zu lassen. Deswegen sagen sie sich schnell von solchen Menschen los und setzen alles daran, sich vor künftigem Schaden zu schützen.

Erfolgreiche Menschen führen keine Kämpfe auf Leben und Tod

Emotional intelligente Menschen wissen, wie wichtig das Überleben ist, um an einem anderen Tag weiterkämpfen zu können. Unkontrollierte Gefühle verleiten in einem Konflikt schnell dazu, einen Kampf zu führen, der tiefe Wunden hinterlässt. Indem Sie Ihre Gefühle genau ergründen und darauf reagieren, können Sie entscheiden, welche Kämpfe Sie austragen und wann Sie unnachgiebig sein sollten.

Erfolgreiche Menschen setzen Perfektion nicht an erste Stelle

Emotional intelligente Menschen streben keine Perfektion an, weil sie wissen, dass Perfektion eine Illusion ist. Menschen sind naturgemäß nicht unfehlbar. Wer sich Perfektion zum Ziel setzt, wird zwangsläufig von einem Gefühl des Versagens heimgesucht. Und ärgert sich letzten Endes nur darüber, was er nicht geschafft hat oder hätte besser machen können, anstatt sich über das Erreichte zu freuen.

Erfolgreiche Menschen leben nicht in der Vergangenheit

Misserfolge nagen meist am Selbstbewusstsein und können den Glauben an ein künftig besseres Ergebnis erschweren. In den meisten Fällen resultieren Misserfolge daraus, dass jemand Risiken eingeht und etwas Schwieriges zu erreichen versucht. Emotional intelligente Menschen wissen, dass der Schlüssel zum Erfolg darin besteht, sich angesichts eines Misserfolgs nicht unterkriegen zu lassen. Und dies ist nur möglich, wenn man nicht in der Vergangenheit lebt. Alles Erstrebenswerte erfordert Risiken. Lassen Sie sich daher von Fehlschlägen nicht daran hindern, an Ihren Erfolg zu glauben. Genau dies passiert jedoch, wenn Sie in der Vergangenheit leben. In diesem Fall wird nämlich die Vergangenheit zur Gegenwart und hindert Sie daran, den Blick nach vorn zu richten.

Erfolgreiche Menschen grübeln nicht über Probleme

Der Fokus der Aufmerksamkeit eines Menschen bestimmt seinen emotionalen Zustand. Wenn Sie sich auf Ihre Probleme fixieren, erzeugen und bestärken Sie negative Gefühle und Stress, was Ihre Leistungsfähigkeit einschränkt. Konzentrieren Sie sich hingegen darauf, wie Sie sich und Ihre Umstände verbessern können, schaffen Sie ein Gefühl persönlicher Wirkungskraft, das positive Gefühle hervorruft und Ihre Leistung erhöht. Emotional intelligente Menschen grübeln nicht, weil sie wissen, dass es viel effektiver ist, über Lösungen nachzudenken.

Erfolgreiche Menschen umgeben sich nicht mit negativen Menschen

Halten Sie sich fern von Menschen, die sich ständig beklagen. Denn diese versinken lieber in Selbstmitleid, anstatt sich auf Lösungen zu konzentrieren. Außerdem animieren sie andere dazu, es ihnen gleichzutun, weil sie sich dadurch besser fühlen. Oft fühlt man sich genötigt, solche Tiraden anzuhören, um nicht als gefühllos oder unhöflich zu gelten. Es gibt jedoch einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen geduldigem Zuhören und sich in einen Sog negativer Emotionen hineinziehen zu lassen. Sie können dies vermeiden, indem Sie Grenzen setzen und sich bei Bedarf distanzieren. Anders betrachtet: Würden Sie als Nichtraucher stundenlang neben einem Raucher sitzen und dessen Qualm einatmen? Eben! Sie würden Abstand halten - und genau dasselbe sollten Sie mit Menschen tun, die sich immerzu nur beklagen. Sie könnten zum Beispiel gut dadurch Grenzen ziehen, dass Sie den Betreffenden fragen, wie er sein Problem zu lösen gedenkt. Er wird daraufhin entweder verstummen oder das Gespräch in eine produktivere Richtung lenken.

Erfolgreiche Menschen hegen keinen Groll

Die aus einem alten Groll herrührenden Gefühle sind im Grunde genommen eine Stressreaktion. Der schiere Gedanke an das entsprechende Ereignis versetzt den Körper in den Alarmzustand. Dieser Zustand sichert das Überleben, wenn man sich einer akuten Gefahr gegenübersieht. Liegt ein solches Ereignis jedoch in der Vergangenheit und wird die Stressreaktion aufrechterhalten, hat dies fatale Folgen für den Körper und führt im Laufe der Zeit zu erheblichen gesundheitlichen Konsequenzen. Forscher der Emory University haben gezeigt, dass beibehaltener Stress zu hohem Blutdruck und Herzerkrankungen beiträgt. Einen Groll zu hegen bedeutet Dauerstress - und emotional intelligente Menschen wissen, wie sie dies unter allen Umständen vermeiden. Wenn Sie lernen, loszulassen, fühlen Sie sich nicht nur unmittelbar besser, sondern tun obendrein noch etwas für Ihre Gesundheit.

Erfolgreiche Menschen sagen nur dann „Ja", wenn sie es auch meinen

Forschungsarbeiten an der University of California in San Francisco belegen, dass Menschen, denen es schwerfällt, „Nein" zu sagen, eher zu Stress, Burnout-Syndrom und sogar Depressionen neigen. Viele Menschen finden es unheimlich schwierig, anderen etwas abzuschlagen. „Nein" ist ein starkes Wort, vor dem Sie nicht zurückschrecken sollten. Wenn emotional intelligente Menschen etwas ablehnen, vermeiden sie Sätze wie „Ich glaube nicht, dass ich das kann" oder „Ich bin mir nicht sicher". Eine neue Verpflichtung abzulehnen bedeutet, dass man vorhandene Verpflichtungen ernst nimmt und die Gelegenheit erhält, ihnen erfolgreich nachzukommen.

Weitere Informationen zu TalentSmart erhalten Sie hier.


Dieser Blog ist ursprünglich bei der Huffington Post USA erschienen und wurde von Julia Keinert aus dem Englischen übersetzt.





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Auch auf HuffingtonPost.de: Zeitraffer - Die Geschichte Europas im Wandel der Zeit





Mauerfall: Die Angst der Deutschen vor der Freiheit

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Die Deutschen, die Mauer und die Freiheit sind der beste Stoff für große Reden dieser Tage. Wir loben unsere freie Welt, den Mut der Menschen, die 1989 die Mauer einrissen - und all die Errungenschaften, die unsere freie Welt so mit sich bringt.

Bei der Gelegenheit schauen wir auch wieder auf die Bilder der Überreste der DDR, auf die grauen Ruinen der kollabierten Staatswirtschaft. Wir erinnern uns an ein Land, das versucht hat, alles zu regeln und dadurch letztlich den Kollaps seiner Wirtschaft herbeigeführt hat.

Weil der Staat eben doch nicht entscheiden kann, was sein Bürger konsumieren, wie sie leben und wie sie sich entwickeln wollen. Er konnte es noch nie und wird es nie können.

Jeder will diese Freiheit, selbst entscheiden zu können, würde für sie kämpfen - könnte man denken, während die Bilder der umstürzenden Mauerteile im Berlin des Jahres 1989 über die TV-Schirme flackern.

Doch das stimmt nicht mehr.

In Wirklichkeit haben die Deutschen nicht nur das Interesse an Freiheit verloren. Zu viele sehen Freiheit als Bedrohung, die irgendwie geregelt und wie ein wildes Tier in einen Käfig gesperrt werden muss.

In Umfragen verliert Freiheit gegenüber Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit immer mehr an Bedeutung.

Auch wichtig. Keine Frage. Aber Freiheit ist noch viel wichtiger. Sie ist die Grundlage für Neues. Für jeden persönlich. Aber auch für die Gesellschaft, die Wissenschaft und die Wirtschaft.

Doch das glauben immer weniger Deutsche, wie eine Allensbach-Studie zeigt: 36 Prozent der Westdeutschen und 42 Prozent der Ostdeutschen gaben an, dass es ihnen in einem Wirtschaftssystem besser ginge, das stärker vom Staat kontrolliert wird.

Freie Länder entwickeln sich weiter. Länder, die sich mit Regeln, Vorschriften und Verordnungen blockieren, bleiben stehen. Deutschland droht dieses Schicksal, weil wir eine Gesellschaft sind, der Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit immer wichtiger werden als Freiheit.

Die Arbeit der Bundesregierung ist Ausdruck dieser Stimmungslage. Mit Gesetzen wie der Mütterrente, der Rente mit 63 und dem Mindestlohn packt Schwarz-Rot unser Land in sozialromantische Watte. Wir haben eine Bundeskanzlerin, die den Deutschen das Gefühl gibt, dass alles garantiert so bleibt wie es ist.

Anstatt aber diesen historischen Raubzug an künftigen Generationen zu beklagen, belohnen die Deutschen diese Politik mit historischen Sympathiebekundungen.

Wer für persönliche oder wirtschaftliche Freiheit oder gar Eigenverantwortung aufsteht, ist politisch erledigt.

Dinge bewegen, neue Wege gehen, Risiken eingehen. Das passt nicht mehr in das Land, in dem Anwohner von Luxusimmobilien Mauern bauen, um den Lärm eines benachbarten Kindergartens zu stoppen. Ein Land, das nur noch dafür lebt, das Erreichte zu konservieren. Zurückzublicken auf die Erfolge von einst: Die Industrie, der Maschinenbau, das Automobil!

Hach, war das wild damals. Aber jetzt keinen Lärm mehr, bitte.

Freiheit ist zunächst einmal anstrengend. Man muss sie wollen.

Zu anstrengend für viele. Und diese kollektive Antriebslosigkeit färbt auch auf die jüngere Generation ab. Wir leben in einem Land, in dem Polizei und Bundeswehr zu den beliebtesten Arbeitgebern unter Schülern zählen. Nicht etwa Unternehmer - oder gar Erfinder. In kaum einem EU-Land wollen weniger junge Menschen ein Unternehmen gründen.

Stattdessen will jeder dritte Student beim Staat arbeiten, wie eine Umfrage der Unternehmensberatung Ernst & Young ergab. Wichtig seien jungen Menschen bei der Berufswahl "insbesondere ein sicherer Job und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf".

Freiheit sieht anders aus.

Wenn wir nach Asien schauen, nach Indien, Südkorea oder Vietnam, dann sehen wir Menschen, die Risiken eingehen, die neue Wege suchen. Aufstrebende Gesellschaften nennen Wissenschaftler diese Länder.

Wir dagegen leben in einer Gesellschaft, in der ein wachsender Teil der Menschen den größten und vielleicht aufregendsten Teil des Lebens hinter sich hat. Wir leben in einer Vorruhestandsgesellschaft.

Besonders deutlich sehen wir das bei neuen Technologien. Ob Big Data, E-Book oder Biotech: Die Deutschen sind skeptisch und ängstlich, was alles Neue angeht. Statt zu überlegen, mit welchen Innovationen wir die neuen Wirtschaftszweige mitgestalten können, beherrscht nur eine Frage die Debatte: Wie können wir das bloß stoppen?

Der Mitfahrdienst Uber, der in vielen deutschen Städten verboten wurde, ist nur das aktuellste Beispiel. Anderswo entwickeln lokale Startups Alternativen zum Angreifer aus den USA. Die Deutschen dagegen finden ein uraltes Gesetz und verschwenden viel Energie darauf, eine Idee zu verbieten, die nicht mehr zu stoppen ist.

Wir glauben immer noch, dass Deutschland ein innovatives Land sei. In Wirklichkeit machen sich andere schon über unsere Technik-Angst lustig.

Die Deutschen lieben Verbote. Je mehr, desto besser. Sie wollen ungesundes Essen verbieten, harte Drogen, Glücksspiel, rechte Parteien, schnelles Autofahren - die Liste ließe sich ewig fortsetzen.

Verbote müssen sein, wenn sie dabei helfen, die Entfaltungsmöglichkeiten jedes Einzelnen sicherzustellen. Sobald Verbote aber alle hemmen, werden sie zu einem Problem.

Entscheiden Sie selbst, ob wir schon so weit sind. In Deutschland ist sogar der Bau von Sandburgen gesetzlich geregelt.

Alle Erfahrungen mit Diktaturen haben den Deutschen nicht gereicht. Sie lieben Verbote, und sie lieben es, Vorschriften zu befolgen. Mehr denn je.

Das sollte uns Sorgen machen, während wir den großen Sonntagsreden lauschen.

Vielleicht sollten wir uns dabei auch klar machen, dass Freiheit für uns mitunter ein wenig zu selbstverständlich geworden ist.

Video: “Das hat das Leben verändert”: Angela Merkel zum Mauerfall







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Video: Überall in Europa feierten Menschen den Mauerfall

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#FalloftheWall25: members of the European Parliament look back from European Parliament on Vimeo.



Am Sonntag (9.11.) jährt sich zum 25. Mal der Mauerfall. Dieser historische Moment war nicht nur für Deutschland wichtig, sondern auch für Europa. Wir haben sieben Abgeordnete gefragt, ob sie sich noch an den Tag im Jahr 1989 erinnern, an dem die Mauer fiel.

"Von der Straße hörte ich viel Lärm, ich sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster und sah, eine Menschenmenge die Straße entlangziehen", sagt der französische EVP-Abgeordnete Alain Lamassoure. Er war an diesem Tag in Berlin für den Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments. Damals konnte er kaum glauben, was er am Checkpoint Charlie sah. Heute sagt Lamassoure: "Es war der wichtigste Moment in meiner politischen Karriere."

Die deutsche EU-Abgeordnete Constanze Krehl (S&D) erfuhr vom Mauerfall in ihrem Wohnzimmer. Sie lebte damals in Eisenhüttenstadt, einer kleinen Stadt in der Nähe von Frankfurt Oder. Mit ihrer Familie verfolgte sie gespannt die Ereignisse in Berlin. "Wir waren überrascht und glücklich zugleich", sagt sie. Später arbeitete Krehl zusammen mit Regine Hildebrandt an der Wiedervereinigung von Deutschland und wurde eine der ersten Beobachter der DDR im Europäischen Parlament.

"Wir konnten es uns nicht vorstellen"

Die EKR-Abgeordnete Beatrix von Storch aus Deutschland war in der Schule als sie vom Fall der Mauer hörte. Sie erzählt, dass das Thema an diesem Tag nicht nur im Geschichtsunterricht diskutiert wurde, sondern auch in Mathematik, Biologie und Sport. "Es war ein zu großes Ereignis, wir konnten es uns nicht vorstellen."

Ska Keller, Grünenabgeordnete im EU-Parlament, war acht Jahre alt als die Mauer fiel. An ihren ersten Besuch in West-Berlin kann sie sich noch gut erinnern. "Es waren so viele neue Eindrücke für mich", erzählt sie. Wenn Sie heute über die Stolpersteine in Berlin geht, die den Standort der Mauer markieren, denkt Keller immer: "Wenn diese Mauer noch stehen würde, wäre ich nicht hier."

Ein Stück der Mauer als Erinnerung

Der belgische Liberaldemokrat Guy Verhofstadt wollte sofort in die osteuropäischen Staaten reisen, als er vom Fall der Mauer hörte. "Das war vorher nicht vorstellbar als Liberaldemokrat", erklärt er.

Der EFDD-Abgeordnete Amjad Bashir hätte sich auch gerne ein Stück der Mauer mitgenommen als Erinnerung. Er verfolgte die Ereignisse in seinem Restaurant in Bradford.

Marisa Matias (GUE/NGL) aus Portugal war ebenfalls in der Schule. Sie erinnert sich, dass jeder in ihrer Generation damals den Mauerfall feierte, egal welche politische Einstellung er hatte.

EU-Parlament unterstützte die Wiedervereinigung bereits kurz nach dem Mauerfall

Das Europäische Parlament unterstütze die Wiedervereinigung von Deutschland und setzte einen besonderen Ausschuss ein, der sich mit dem Fall der Mauer beschäftigte. Noch im November waren Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand im Plenum zu Gast. Die Plenarsitzung im November 1989 können Sie hier nachlesen.

Sie können dem Thema in den sozialen Medien mit den Hashtags #Mauerfall #fotw25 und #Fallofthewall25 folgen.

Die EU-Abgeordneten werden an den Mauerfall in einer Plenardebatte am Mittwoch (12.11.) erinnern.

Einigkeit und Recht und Freiheit!

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Einigkeit und Recht und Freiheit - die Vollendung unserer Nationalhymne durch Mauerfall und Wiedervereinigung ist das größte Geschenk für unser Vaterland. Tief haben sich die Bilder des 9. November 1989 in unser kollektives Bewusstsein eingeprägt. Und wie so viele Deutsche verbinde auch ich neben der politischen Dimension ganz persönliche Erinnerungen an dieses historische Datum.

Am Tag, an dem Mauer fiel, war ich als Bayerischer Innenminister unterwegs, ausgerechnet bei der ungarischen Regierung, die durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs einen so unermesslichen Beitrag für uns Deutsche geleistet hatte. Noch weit entfernt von Internet und Handy empfing mich mein Gesprächspartner, der ungarische Wohnungsbauminister, mit den Worten: „Ich wundere mich, dass Sie an diesem Tag kommen".

So habe ich dann in Ungarn von diesem schier unglaublichen Ereignis erfahren.

Meine Gespräche habe ich, tief aufgewühlt, noch zu Ende geführt und bin dann angesichts der historischen Ereignisse in der Heimat zurück nach Deutschland geeilt. Am Tag danach habe ich dann an der innerdeutschen Grenze im thüringischen Sonneberg vor Tausenden gesprochen, die in einer unvergleichlichen Stimmung waren.

Die Menschen haben mich so bestürmt, dass ich auf das Auto geklettert bin und mich mit einem Megafon an sie gewandt habe. Eine solche Atmosphäre aus Euphorie einerseits sowie dem Wegfall von Zwang und Angst andererseits habe ich nie erlebt. Aber ich erinnere mich auch an die spürbare Resignation älterer Menschen, denen so bewusst geworden ist, dass der Fall der Mauer für ihr Leben und ihre Hoffnungen sehr, sehr spät kommt.

Unvergessene Momente!

Die Welt steht kurz vor einem neuen kalten Krieg

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Ich möchte zu allererst den Deutschen - und uns allen - zu diesem wahrhaft historischen Ereignis gratulieren.

Historische Umbrüche, die der Mitwelt vielleicht unerwartet erschienen, wirken im Nachhinein manchmal unvermeidlich, geradezu vorbestimmt. Aber rufen wir uns die Zeit zurück in Erinnerung, in der all das passierte: wie chaotisch und eilig der Veränderungsprozess war.

Sein Ausgang - die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands - war nur möglich, weil er durch große Veränderungen in der internationalen Politik und in den Köpfen der Menschen vorbereitet worden war.

Diese Veränderungen löste die Perestroika in der Sowjetunion aus. Nachdem wir unseren Kurs in Richtung Reformen, ‚Glasnost' (Offenheit) und Freiheit gesetzt hatten, konnten wir den anderen Nationen Zentral- und Osteuropas den gleichen Weg nicht verwehren. Wir verwarfen die „Breschnew-Doktrin" und erkannten die Unabhängigkeit dieser Staaten und ihre Verantwortung für ihr eigenes Volk an. Das habe ich ihren Oberhäuptern bei unserem allerersten Treffen in Moskau gesagt.

Als durch den Einfluss der Veränderungen in der Sowjetunion innerpolitische Prozesse in den Nachbarstaaten in Schwung kamen und die Bürger der DDR begannen, Reformen zu verlangen, und - kurz danach - die Wiedervereinigung, sah sich die Führung der UdSSR mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert.

Nicht nur in unserem Land, auch in vielen europäischen Staaten wurden Zweifel und Befürchtungen laut gegenüber einem Vereinigungsprozess. Die Zweifel von Margaret Thatcher, François Mitterrand und anderen Staatschefen sind verständlich. Schließlich war die Erinnerung an die Tragödie des Zweiten Weltkriegs noch sehr frisch. Und es gab noch andere Gründe für ihre Zurückhaltung.

In noch größerem Maße hatten die Menschen in unserem Land, die am meisten unter Hitlers Angriffen zu leiden hatten, Grund zur Sorge.

In der Zwischenzeit überschlugen sich die Ereignisse, mit dem Volk als Hauptakteur - das Volk, das nach Veränderung verlangte und seine Absicht erklärte, in einem vereinten Land leben zu wollen: „Wir sind ein Volk".

Während eines Treffens der Sowjetführung im Januar 1990 diskutierten wir über die neuesten Entwicklungen und kamen einstimmig zu dem Ergebnis, dass die Sowjetunion der Wiedervereinigung nicht im Weg stehen dürfe - dass sie sich aber auf eine Weise vollziehen müsse, die im Interesse ganz Europas und unseres eigenen Landes, wie auch dem der Deutschen selbst sei.

Hätten wir eine realistische und verantwortungsvolle Einschätzung vermieden oder eine andere Entscheidung getroffen - die Geschichte hätte sich dramatisch anders entwickeln können. Und der Einsatz von Waffengewalt hätte zu einem großen Blutvergießen führen können.

Wir haben den Weg eingeschlagen, für den man politische Entscheidungskraft und aktive Diplomatie benötigt. Um die außenpolitischen Aspekte der deutschen Wiedervereinigung anzugehen, wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag erarbeitet. Der schwierigste Punkt darin war die deutsche Mitgliedschaft in der NATO.

Ich war für ein neutrales Deutschland. Präsident Bush widersprach: "Warum? Haben Sie Angst vor den Deutschen? Gerade deshalb müssen sie integriert werden, fest verankert in der NATO." Ich antwortete: „Das klingt mir eher danach als seien Sie es, der Angst vor ihnen hat."

Wir diskutierten verschiedenste Möglichkeiten. Schließlich kamen wir darin überein, dass das vereinte Deutschland selbst über die Mitgliedschaft entscheiden sollte, dass aber die Sicherheitsinteressen der UdSSR mit berücksichtigt werden müssten.

Das erforderte intensive Gespräche. Am Ende sah der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland folgende Maßnahmen vor:

- Präsenz sowjetischer Truppen auf ehemaligem DDR-Gebiet für eine Übergangsphase;
- keine Stationierung von ausländischen Truppen der NATO nach der Übergangsphase;
- keine Stationierung von Nuklearwaffen;
- deutlicher Personalabbau um fast 50 Prozent der Armee der BRD.

Das waren wichtige Verpflichtungen, die über den fogenden Zeitraum beobachtet wurden. In diesen Jahren haben die Deutschen ihr Bekenntnis zu Frieden und Demokratie bewiesen und die deutsche Regierung hat im Allgemeinen eine konstruktive und verantwortliche Linie auf der internationalen Arena verfolgt.

Ich bin zuversichtlich, dass die Geschichte den politischen Führungskräften dieser Zeit gute Noten erteilen wird.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war ein wichtiger Schritt, um dem Kalten Krieg ein Ende zu setzen. Neue Möglichkeiten eröffneten sich für die Welt und besonders für Europa. Die Umrisse eines neuen Europas traten aus der „Charta von Paris" hervor, die von den Oberhäuptern der europäischen Länder sowie von den USA und Kanada unterschrieben wurde.

Es sah danach aus, dass Europa zu einem Vorbild für andere werden könnte, indem es ein solides System gegenseitiger Sicherheit schaffen und eine Führungsrolle in der Lösung von globalen Problemen übernehmen würde. Doch die Ereignisse haben sich in eine andere Richtung entwickelt.

Die europäische und international Politik hat den Test der Erneuerung, der neuen Verhältnisse einer globalen Welt in der Ära nach dem Kalten Krieg nicht bestanden.

Wir müssen uns eingestehen, dass wir uns seit der Gründung unseres Forums zu Beginn dieses Jahrhunderts noch nie in einem derart angespannten und risikoreichen Umfeld versammelt haben. Blutvergießen in Europa und im Nahen Osten vor dem Hintergrund des gescheiterten Dialogs zwischen den größten Weltmächten ist sehr bedenklich. Die Welt steht kurz vor einem neuen Kalten Krieg. Manche behaupten gar, er habe bereits begonnen.

Und obwohl die Situation so dramatisch ist, sehen wir von Seiten der wichtigsten internationalen Organisation - des Sicherheitsrates der UN - kein Eingreifen und keine konkreten Aktionen. Was hat der Sicherheitsrat getan, um die Waffengewalt und das Sterben zu beenden? Er hätte mit Entschlossenheit handeln müssen, um die Situation zu bewerten und einen Plan zu gemeinsamem Handeln zu entwickeln. Aber das wurde und wird nicht getan. Warum?

Ich würde das, was in den letzten Monaten geschehen ist, als Zusammenbruch des Vertrauens bezeichnen - des Vertrauens, das mit harter Arbeit und beidseitiger Anstrengung geschaffen wurde, um den Kalten Krieg zu beenden. Vertrauen - ohne das internationale Beziehungen in einer globalisierten Welt unvorstellbar sind.

Trotzdem wäre es falsch, die aktuelle Situation nur mit den jüngsten Ereignissen begründen zu wollen. Ich möchte ganz offen mit Ihnen sein. Dieses Vertrauen wurde nicht erst gestern unterhöhlt; das ist schon viel früher passiert. Die Wurzeln der aktuellen Situation liegen in den Ereignissen der 1990er Jahre.

Das Ende des Kalten Krieges war erst der Anfang des Weges in Richtung eines neuen Europas und einer sichereren Weltordnung. Aber anstatt neue Mechanismen und Institutionen im europäischen Sicherheitssystem zu etablieren und eine Entmilitarisierung der europäischen Politik voranzutreiben - wie übrigens in der Londoner Erklärung der NATO versprochen wurde - erklärte sich der Westen, allen voran die USA, zum Sieger im Kalten Krieg.

Euphorie und Triumphgefühle stiegen den Anführern der Westlichen Welt zu Kopfe. Sie nutzten die Schwäche Russlands und das Fehlen eines Gegengewichts dazu aus, alleinige Führung und Herrschaft in der Welt zu übernehmen und weigerten sich, den Warnungen von vielen, die heute hier anwesend sind, Gehör zu schenken.

Die Ereignisse der letzten Monate sind die Folge von kurzsichtiger Politik, von dem Versuch, den Verbündeten den eigenen Willen aufzuzwingen und dabei die Interessen des Partners auszublenden.

Eine kurze Liste möge hier genügen: die Vergrößerung der NATO, Jugoslawien, besonders der Kosovo, Raketenabwehrpläne, Irak, Libyen, Syrien.

Um es metaphorisch auszudrücken: Ein Bläschen hat sich zu einer blutigen Eiterbeule ausgewachsen. Und wer leidet am meisten unter diesen Geschehnissen? Ich denke, die Antwort ist mehr als klar: Es ist Europa, unser gemeinsames Zuhause.

Anstatt eine Führungskraft für globale Veränderung zu werden, hat Europa sich in einen Schauplatz politischer Instabilität, innereuropäischer Konkurrenz um Einflussgebiete und schließlich sogar militärischen Konflikts verwandelt. Die Konsequenz ist notwendigerweise eine Schwächung Europas zu einer Zeit, in der andere globale Kräfte an Einfluss gewinnen. Wenn es so weiter geht, wird Europa seine starke Stimme in den Geschehnissen der Welt verlieren und langsam in die Bedeutungslosigkeit abdriften.

Hier in Berlin - während der Feierlichkeiten anlässlich des Falls der Berliner Mauer - muss ich darauf aufmerksam machen, dass all dies negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland hatte. Wenn wir weiter in diese Richtung gehen, könnte das bleibenden Schaden in unserem Verhältnis zueinander anrichten, das bislang vorbildlich gewesen ist. Lasst uns nicht vergessen, dass es ohne eine russisch-deutsche Partnerschaft keine Sicherheit in Europa geben kann.

[...]

Dieser Beitrag ist ein übersetzter Ausschnitt aus Michail Gorbatschows Rede auf dem "Symposium of the New Policy Forum" in Berlin am November 8, 2014

Die Mauer retten

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Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November hat der frühere Berliner Parlamentspräsident Reinhard Führer in einem Interview mit der Huffington Post dazu aufgerufen, die vom Verfall bedrohten Reste der Berliner Mauer in der Niederkirchnerstraße gegenüber dem Berliner Abgeordnetenhaus zu retten.

In der deutschen Hauptstadt sind nur noch an drei Stellen Überreste des 1961 von der DDR errichteten „antiimperialistischen Schutzwalls" erhalten, die allerdings den wahren Charakter der einstigen Mauer nur noch bedingt erkennen lassen. Am bekanntesten ist die 1,3 Kilometer lange East Side Gallery am Ostbahnhof in Friedrichshain.

Dieses Stück Mauer wurde 1990 von 118 Künstlern aus 21 Ländern bemalt und ist bereits zwei Mal - in den Jahren 2000 und 2008 - saniert worden. Daneben befindet sich in der Bernauer Straße als Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer das letzte Stück der Mauer, das in seiner Tiefenstaffelung erhalten geblieben ist und einen Eindruck vom Aufbau der Grenzanlagen zum Ende der 1980er Jahre vermittelt.

Am authentischsten und geschichtsträchtigsten aber ist das 200 Meter lange Mauerstück in der Niederkirchnerstraße zwischen Martin-Gropius-Bau und Wilhelmstraße. Mit Reinhard Führer sprach Detlef Untermann.

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Detlef Untermann: Herr Führer, warum setzen Sie sich für den Erhalt gerade dieses Mauerstücks ein?
Führer: An dieser Stelle ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Händen zu greifen. Das ehemalige Gestapo-Hauptquartier mit seinen Folterkellern im nicht mehr existierenden Prinz-Albrecht-Palais, dort, wo sich heute das Gelände der Topographie des Terrors befindet, weist auf die braune Diktatur der Nazis hin. Sie wiederum hat direkt zur roten Diktatur der SED und damit 1961 zum Bau der Mauer geführt. Dieses sichtbare Nebeneinander zweier Diktaturen ist in dieser Form einmalig. Und deshalb muss dieses Stück Mauer unbedingt erhalten bleiben.

Detlef Untermann: Ist die Mauer dort denn ernsthaft bedroht.
Führer: Mehr als das. Direkt nach dem Mauerfall waren es erst die Mauerspechte, die der Mauer zugesetzt haben. Jetzt ist es die Witterung, die unerbittlich den Verfall beschleunigt. Der Beton ist bereits so verwittert, dass Teile davon einzustürzen drohen. Und jedes weitere Stück Stahl, das vom Rost befallen wird, entwickelt eine enorme Sprengkraft. Noch ein paar strenge Winter und von der Mauer ist in ein paar Jahren nichts mehr übrig. Ein Gutachten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bescheinigt dem Mauerstück übrigens nur noch eine Reststandzeit bis maximal 2020.

Detlef Untermann: Was könnte man denn Ihrer Ansicht nach tun?
Führer: Man könnte die beschädigten Stellen durch intakte originale Mauersegmente, die sich noch an verschiedenen Orten befinden, ersetzen.

Detlef Untermann: Was würde die Sanierung kosten?
Führer: 300.000 Euro wird man wohl veranschlagen müssen. Das wird angesichts der Finanzlage des Landes Berlin nicht ohne Sponsoren und Spenden der Bürger gehen. Ich bin aber zuversichtlich, dass so viel Geschichtsbewusstsein in der Stadt vorhanden ist, dass dieses einmalige Zeit-Zeugnis erhalten werden kann.

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Reinhard Führer ist ehemaliger Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V

Rocking the Wall

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Im Jahr 2089, wenn Deutschland den 100. Jahrestags des Falls der Berliner Mauer feiern wird, werden die Historiker und Soziologen eine andere Perspektive auf all die Gründe haben, die zum Fall dieses Symbols der Teilung und des Kalten Krieges beitrugen. Und sie werden wohl darauf hinweisen, dass alles ausgerechnet mit dem Rockkonzert eines Amerikaners namens Bruce Springsteen begann.

So unglaublich das auch im Jahr 2014 klingen mag, gibt es doch deutliche Hinweise, dass Springsteen unwissentlich dazu beigetragen hat, die Berliner Mauer niederzureißen mit dem größten, erderschütterndsten Konzert in der Geschichte Ost-Deutschlands. Das ist zumindest die Theorie meines Buches Rocking the Wall - Ostberlin 1988 - das legendäre Konzert.

All das geschah 16 Monate vor dem Mauerfall im Juli 1988 und das größte Publikum, vor dem Springsteen je spielte, erlebte ihn auf einer riesigen Wiese im Ostberliner Bezirk Weißensee. Springsteen zog dort 300.000 Menschen in seinen Bann und nur die Hälfte von ihnen hatte überhaupt Tickets. Der Rest stürmte einfach die Tore und kam damit durch (vielleicht ein kleiner Vorgeschmack auf das, was 1989 folgen würde).




Springsteen brachte die ekstatischen Ostdeutschen nicht nur dazu, sich zu „Born in the U.S.A." die Seele aus dem Leib zu schreien, er eröffnete sein vierstündiges Konzert auch trotzig mit dem Titel „Badlands", einem Song, der die Ostdeutschen vielleicht an ihr eigenes Land erinnern sollte. Später spielte er „Chimes of Freedom" nachdem er in einer kurzen Rede gefordert hatte, die Mauer niederzureißen. Für die Ostdeutschen, die eingesperrt hinter dem Eisernen Vorhang lebten, war das ein unvergesslicher und unfassbar befreiender Moment - ein amerikanischer Rockstar erzählt 300.000 Menschen, dass er zu ihnen gekommen sei, um für sie zu spielen und in der Hoffnung, dass „eines Tages alle Barrieren abgerissen werden".



16 Monate später war die Mauer weg. Mike Spengler, der Hornist in Springsteens Band war, nahm nach dem Erscheinen meines Buches Rocking the Wall kurz vor dem 25. Jahrestag des Konzerts im letzten Jahr Kontakt zu mir auf.

Er teilte mir seine Erinnerungen an das historische Konzert 1988 und die beiden Tage, die die Band hinter dem Eisernen Vorhang in Ost-Berlin verbracht hatte mit. Auch ein Offizier der US-Army, der in dieser Zeit in West-Berlin stationiert war, meldete sich. Er hatte das Konzert selbst erlebt und anschließend seinen Vorgesetzten vorhergesagt, dass die Berliner Mauer innerhalb von 18 Monaten fallen würde, ohne dass ein Schuss abgegeben würde.

Er lag nur zwei Monate daneben. Ihre Eindrücke und auch 10 neue Fotos des Konzerts sind nun Teil einer neuen, aktualisierten und erweiterten Fassung des Buches Rocking the Wall (auch in dt. Fassung), die gerade jetzt durch Berlinica in New York veröffentlicht wurde.

Springsteen ging 1988 nach Ost-Berlin, nachdem er bereits seit einem Konzert 1981 während seiner River-Tour den Wunsch hatte, für die Menschen zu spielen, denen die Freiheit verweigert blieb, sein Konzert in West-Berlin zu besuchen. Er war damals einen Tag als Tourist in Ost-Berlin unterwegs, es war die dunkle Zeit des Kalten Krieges und es blieb der Wunsch, dort einmal zu spielen. Die kommunistischen Hardliner der SED lehnten zunächst ab, aber sieben Jahre später erhielt er während seiner Tunnel of Love-Tour endlich und ziemlich plötzlich die Zustimmung der Verantwortlichen in Ost-Berlin.

Er war erschrocken, als er bei seiner Ankunft in Ost-Berlin die Plakate in entdeckte, auf denen das kommunistische Regime seine Show als „Konzert für Nicaragua" ankündigte. Springsteens Manager Jon Landau machte deutlich,dass Springsteen niemals - nicht in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft -- ein Konzert für Nicaragua geben würde. Punkt. Aus. Basta. Etwas panisch, dass Landau das Konzert absagen würde, entfernten die Funktionäre eilig alle Plakate mit der Aufschrift „Nicaragua im Herzen" von der Bühne und vom Konzertgelände. Dass aber bereits 150.000 Tickets mit dem Slogan verkauft worden waren, ließ sich nicht mehr ändern. So entschied Springsteen, in der Mitte seines Konzerts mit einigen Worten seine Motive zu erklären.

Nach ca. einer Stunde Show zog Springsteen einen zerknüllten Zettel aus seiner Jeans, auf dem ihm einige phonetische deutsche Wörter halfen, den wohl mächtigsten Appell für die Freiheit während des Kalten Krieges zu halten. Das Publikum war hungrig nach seiner Botschaft und vor allem ausgehungert nach Freiheit.

Die jungen Ostdeutschen hatten genug von ihrer stalinistischen Regierung und deren Abneigung gegen Reformen. Er war immer noch verärgert, dass die Ostberliner Organisatoren des Konzerts versucht hatten, dem Ganzen einen kommunistischen Stempel aufzudrücken. Und so trat er ans Mikrofon und sagte: „Ich bin nicht hier für oder gegen eine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock'n'Roll für euch zu spielen, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden."

Die Menge brüllte. Einige erzählten mir nachher, dass sie ihr Leben lang darauf gewartet hatten, so eine Botschaft zu hören. Die 300.000 tanzten und sangen vier Stunden in dieser Nacht. Sie wollten mehr von dieser Freiheit, von der sie in dieser Nacht kosten durften. In den folgenden Wochen und Monaten gewann die Bewegung für den Wandel in Ostdeutschland mehr und mehr an Dynamik. Zunächst langsam, aber unaufhaltsam.

Bereits Anfang 1989 gab es kein Zurück mehr und die friedliche Revolution, die im Frühjahr, Sommer und Herbst 1989 durch Ostdeutschland fegte, stürzte erst das kommunistische Regime und dann die Mauer.

Eine Menge Leute dachten ich sei verrückt, als ich ihnen zum ersten Mal von meiner Theorie erzählte, dass für mich auch das Springsteen-Konzert am 19. Juli 1988 einer der Gründe war, dass die Mauer 16 Monate später fiel. Aber einige Historiker in Deutschland und anderswo, die nunmehr einen tieferen Einblick haben auf die vielen Faktoren, die zur Revolution in Ost-Deutschland und zum Zusammenbruch der Berliner Mauer beigetragen haben, stimmen mir vorsichtig zu.

Springsteens legendäres Konzert und sein Appell für die Freiheit sind jetzt Teil dieser größeren Untersuchung nach den Gründen für den Fall der Mauer am 9. November 1989.
Ob man glaubt, dass Springsteens Konzert etwas mit dem Fall der Mauer zu tun hat, hängt davon ab, wie sehr man an die Kraft des Rock'n'Roll glaubt. Aber ich denke, eines ist über jeden Zweifel erhaben: dieses Konzert ist ein wunderbares Beispiel für den Einfluss des Rock auf Menschen, die hungrig und bereit für Veränderungen sind.

Erik Kirschbaum ist Autor des Buchs Rocking the Wall Bruce Springsteen: The Berlin Concert That Changed the World.
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Wendezeit und „Heldenzeit" in Leipzig

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Wendezeit und „Heldenzeit" damals in Leipzig. Nun auch schon fast ein Vierteljahrhundert her.
Was hier so prosaisch daherkommt, ist es auch, und doch auch anders. Vielfach sieht man sich veranlasst, sich diese Zeit und deren agierenden Protagonisten nochmals zu vergegenwärtigen, da doch Vergangenheit ein Beharrungsvermögen hat, welches immer auch in die Gegenwart hineinwirkt. Und vieles ist längst nicht so klar, als dass man darüber seine festgefahrene Meinung nicht doch mal revidieren könnte.

Vergegenwärtigt man sich noch einmal diese zurückliegende Zeit, erliegt man also schnell der irrigen Annahme, doch schon alles zu wissen. Viele sehen schnell Leipziger Helden, auch etwas Revolutionäres, und vergessen dabei, dass die aller wenigsten wirklich heldenhaft agierten. Denn so sind die Menschen nicht gestrickt. Oder jedenfalls doch die allermeisten.

Dabei soll hier doch aber aller Einsatz eines jeden Einzelnen nicht klein geredet werden (auch und gerade wegen der großen Sympathie für jeden Einzelnen), aber nur beim „Honeymoon der Revolution" mitzumachen, ist zwar alle Mal besser, als nicht mitzumachen, nur darf man sich hier nicht selbst beweihräuchernd täuschen. Denn man muss klar sehen, dass die äußeren Umstände eindeutig bestimmender und fundierter zum Erfolg der Wende beigetragen haben. Und da hat nun doch einmal der Altkanzler Kohl recht, wenn er in den Gesprächen mit dem Heribert Schwan Bezug auf die fördernde und entscheidende Rolle der damaligen Sowjetunion nimmt. Diese Sowjetunion seinerzeit repräsentiert durch Michail Gorbatschow. Einer, der die Zeichen der Zeit sehr richtig erkannt hatte.

Aber nichtsdestotrotz sollen hier die Leipziger gelobt werden, die die Zeichen der Zeit ebenfalls richtig gedeutet hatten, sich mehr oder wenig mutig auf der Woge der Umstände mitreißen ließen, andere mitrissen, und folglich ihren Teil zur erfolgreichen und unblutigen Wende beigetragen haben.

Aber die allermeisten Menschen sind dennoch keine Revolutionäre, und dieses zeigte sich dann auch in den ersten Leipziger Wendejahren. Normalität, Einrichten in Gegebenheiten war vielmehr die vorrangige Devise. Schnell hatte man sich anzupassen und hineinzufinden. Natürlich hatte es auch Vorbehalte gegeben, aber sie wurden in der Regel doch nur angesprochen. Tatsächliches Handeln gab es eher weniger.

Anfänglicher Elan verflachte sehr schnell. Zwar war man sich vielfach durchaus darüber im Klaren, dass der Westen längst nicht so glänzend war, wie er einst häufig genug erschien. Aber auf eine nachvollziehbare Weise akzeptierte man schnell die Gegebenheiten, ließ es zu, dass die DDR in der BRD aufging. Und dieses dokumentierten nicht nur die Wahlergebnisse, die dann auch schon bald und folgerichtig eine Schwächung der Volksparteien bzw. Wahlenthaltungen brachten, auch das alltägliche Handeln, eben auch das Erdulden und Zurechtkommen, zeigte dies.

Wieder einmal hatten wir es also mit einer nachvollziehbare Verbindung zwischen Geschichtlichem, Gesellschaftlichem und Persönlichem, gerade auch im Alltäglichen, auch im Banalem zu tun (und dies ist nicht wirklich negativ gemeint, spiegelt es denn doch alltägliche und banale Wirklichkeit, und natürlich auch Menschlichkeit, wider).

25 Jahre Mauerfall - Die DDR war ein Unrechtstaat

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Nun wird groß gefeiert - der "Unrechtstaat DDR" wurde friedlich überwunden. Jeder weiß, dass Willkür, Gefängnis und sogar Lebensgefahr denen in der Diktatur DDR drohte, die sich mit den Zuständen nicht einrichten wollten oder konnten. Die opponierten oder gar zu fliehen versuchten.

Diese Realität können auch die Linken problemlos eingestehen. Reicht aber nicht - ganz besonders vielen CDU/CSU-Politikern nicht. Gerade von der Linken-Parteiführung wollen sie hören: "Die DDR war ein Unrechtstaat". Warum eigentlich?

Viele derjenigen, die sich - aus welchen Gründen auch immer - mit den Gegebenheiten der ehemaligen Volksrepublik eingerichtet hatten, haben sich zeitweise (zumindest als Erwachsene) auch mit IHREM STAAT identifiziert. (Eine normale Identitätsentwicklung.) Sie fühlten nicht nur "Wir sind das Volk" - sie empfanden sich auch als Teil des Staates. Und sollen DIESE IHRE Vergangenheit nun auf Anforderung diskreditieren!

Klingt ziemlich diktatorisch und erinnert an DDR-Zeiten. Als vollendete Opportunistin vermag die Bundeskanzlerin Frau Merkel, in dieser DDR aufgewachsen und gefördert als (oder obwohl) Tochter eines Pfarrers, diese unbillige Forderung aber wohl nicht zu erkennen.

Die beste Party meines Lebens: Mein 9. November

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Den ganzen Tag schon hatte ich mich auf mein Rendezvous am Abend gefreut. Mein Studenten-Job in der Lokalredaktion des SFB war klasse, aber ich war nicht so wirklich bei der Sache. Gerade hatte ich jemanden kennengelernt und hatte mich verabredet, heute bei mir zu kochen. Um 20:00 Uhr sollte es losgehen. Und ich wollte noch jede Menge vorbereiten.

Vor einem Fernseher in der Redaktion saßen wir alle zusammen, und schauten die legendäre Pressekonferenz mit Günter Schabowski im damaligen internationalen Pressezentrum der DDR. Viele staunten, waren ungläubig, und ich erinnere mich noch, wie jemand sagte: „Das klingt ja fast so als wär die DDR zu Ende." Es wurde gelacht. Ein anderer sagte: „Vielleicht sollten wir ein Kamera-Team schicken, könnte ja sein, dass das jemand glaubt."



Natürlich waren allen die Unruhen im Osten bewusst. Viele Berliner Familien waren geteilt und die Verwandten dort erzählten uns, so könne es nicht weitergehen. Aber, da sie das immer taten, dachten wir uns nicht wirklich was dabei. Aus heutiger Sicht betrachtet war das alles eine logische Folge, all die Montagsdemos, die große Demo auf dem Alexanderplatz. Aber damals war es schlicht undenkbar. Natürlich herrschte ein Wind des Wechsels in Berlin. Aber wahrscheinlich fehlt uns einfach die Fantasie, das Unmögliche zu denken. Da waren uns „die Brüder und Schwestern aus dem anderen Teil Deutschlands" anscheinend ein bisschen voraus.

Eigentlich wollte ich kochen

Meine Gedanken waren eh schon woanders! Mein Job war zu Ende und ich rannte los, wollte nach Hause. Gerade angekommen kam auch schon mein Besuch. Wir begannen bei guter Musik die Kochvorbereitungen. Ich weiß noch, dass ich mit Zwiebeln schneiden beschäftigt war, als mein Telefon klingelte. Meine Mutter war dran. Ausgerechnet meine Mutter! Sie fragte: „Wieso bist Du zu Hause? Weißt Du nicht, dass die Mauer fällt?" Ich war genervt, erwiderte nur „Mami ich kann gerade nicht, habe eine wunderbare Verabredung hier zu Hause, das ist echt wichtiger." Und wimmelte sie ab. Meine Mutter sagte etwas von Geschichte passiert, doch ich murmelte, mag ja sein, hatte kein Ohr dafür. Nachdem meine Mutter nochmal anrief, machten wir den Fernseher an und sahen, was in der Zwischenzeit passiert war.

Party am Brandenburger Tor

Natürlich ließen wir das Kochen Kochen sein, sprangen in die S-Bahn und fuhren in Richtung Mitte. Dort war es bereits richtig voll. Vom S-Bahnhof Tiergarten liefen wir ungefähr eine Viertelstunde durch die Menschenmassen zum Brandenburger Tor. Die Mauer war relativ nah an den Bäumen des Tiergartens und es war unglaublich eng, mit einer extrem positiv geladenen Stimmung. Es war bitterkalt, aber ich tanzte mit Leuten, die ich noch nie gesehen hatte. Alle umarmten sich, küssten sich. Viele hatten Sekt dabei, die Flaschen kreisten.

Plötzlich war da eine Leiter und man konnte rauf auf die Mauer. Wie oft hatten wir davor gestanden, und dann waren wir plötzlich oben. Unglaublich! Von oben konnten man die Massen auf der anderen Seite sehen. Da passierte was... VoPos wurden umarmt, drüben fand die gleiche Party statt.

Geschichte live

Das festliche Treiben zog mich mit - hin zum nächsten Grenzübergang. Und da sah man, wie offen die Mauer war. Ein steter Strom lief ungläubig staunend die Straße entlang in den Westen. Alle hatten so einen glückselig staunenden Blick. Kein Hollywood Regisseur hätte sich das besser ausdenken können. Aber es war wahr! Und das war's, was es so beeindruckend machte. Geschichte live und wir waren mittendrin! Da war eine unglaubliche Energie! Es wurde überall umarmt, geküsst, angestoßen. Viele hatten merkwürdige Getränke mitgebracht: wahrscheinlich selbst gebrannter Wodka.

Auch flossen viele Tränen, vor allem bei den Älteren. Und Sorgen waren auch da: Oh Gott was macht „der Russe"? Was macht die Stasi? Werden sie in ihren Kasernen bleiben? Oder erleben wir so etwas wie in Prag? Aber wahrscheinlich war es diese surreale Energie, die alle Bedenken und negativen Energien fortblies. Mit Polizisten, Grenzern und auch Busfahrern wurde getanzt, sie wurden umarmt, geherzt und gedrückt. Irgendwie war das alles unwirklich und eigentlich unbeschreiblich.

Es grenzt an ein Wunder, dass bei den vielen Menschenmassen alles so friedlich verlief. Aber so war es. Und die östlichen Ordnungshüter waren genauso. Alles war einfach wie eine gigantische Party. Und das Beste: Am nächsten Morgen war alles kein Traum!

Kleiner Nachsatz: Mein Koch-Date und ich haben uns im Strom der feiernden Massen irgendwann aus den Augen verloren, aber es war die beste Party meines Lebens.

Aus Sorge um Europa - Ein Appell

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Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist unsere Zukunft, es ist unser Schicksal. Das Europa, das wir bauen und vollenden wollen, ist eine Idee und ein politisches Gebilde.

Europa - das wird von Kritikern gerne übersehen - ist nicht eine um jeden Preis umzusetzende, verrückte Idee einiger Europa- oder Euro-Fanatiker oder naiver Träumer, es ist nicht Poesie und nicht Folklore, es ist kein Ereignis oder - wie man heute sagt - kein Event.

Im Gegenteil, Europa ist zuerst und vor allem anderen eine Existenzfrage und eine sehr ernste Sache des Verstandes, gespeist aus der bitteren Erfahrung der Geschichte unseres ruhelosen Kontinents und dem daraus gewonnenen Weitblick vieler mutiger Männer und Frauen nach 1945, dass es für eine dauerhaft stabile europäische Friedensordnung das politisch geeinte Europa braucht.

Dass die Generation Konrad Adenauers und auch meine Generation, die den Krieg noch mit Bewusstsein erlebt hat, Europa immer auch als Herzensangelegenheit verstanden haben, ist kein Widerspruch dazu, dass Europa zuerst und vor allem eine Sache des Verstandes ist. Im Gegenteil, Europa braucht auch die Leidenschaft.

Europa braucht beides, den Verstand und die Leidenschaft, damit die Richtung nicht verlorengeht und damit zugleich der Wille und die Kraft erhalten bleiben, auf dem lohnenden Weg nach Europa weiter voranzugehen, auch wenn der Weg langwierig, mühsam und steinig ist.

Das war übrigens nie anders, das kann zumal mit vielen Staaten mit unterschiedlichen Interessenlagen auch gar nicht anders sein, und das kann umso weniger in einer komplexen Welt überraschen.

Das mag nicht jedem gefallen, das mag sich manch einer einfacher vorstellen oder wünschen, aber es ist nun einmal die Wirklichkeit, und es ist vor allem die Wirklichkeit Europas.

Mit einem Satz: Das Europa der Gründerväter ist ohne Alternative. Wir alle, nicht nur in Europa, brauchen Europa. Und wir, die Deutschen, brauchen Europa noch mehr als alle anderen.

Deutschland ist das Land mit den längsten Grenzen und den meisten Nachbarn und nach Einwohnerzahl und Wirtschaftsstärke die Numero 1 in Europa. Was wir tun - auch das, was wir nicht tun -, berührt seit Jahrhunderten bis heute unsere Nachbarn in Europa und viele andere Länder darüber hinaus ganz unmittelbar.

Europa ist für uns alle Verpflichtung und Verantwortung, und das ist es noch einmal in besonderer Weise für uns Deutsche - vor dem Hintergrund unserer Geschichte, unserer geographischen Mittellage, unserer Größe und Kraft.

Die heute mittlere Generation, die den Krieg nicht mehr erleben musste und an verantwortlichen Stellen in Politik, Wirtschaft und auch den Redaktionsstuben sitzt, nicht selten fest und satt im Sattel und manches Mal mit Übermut und Selbstgefälligkeit, mag darüber lächeln, aber, ja, für mich, Jahrgang 1930, ist der letzte große Krieg, der Zweite Weltkrieg, mit all seinem Leid und seinen Schrecken und auch seiner Mahnung für unsere Zukunft gerade erst vorbei und bis heute gegenwärtig.

Für mich haben wir Deutschen gerade erst zwei Kriege verloren, und zwar total. Für mich ist Europa aus eigenem Erleben eine Schicksalsfrage.

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke und die Summe meiner Lebenserfahrung ziehe, kann ich sagen: Viele Leitlinien meines Denkens und Handelns sind während der Kriegszeit entstanden. Der Satz »Nie wieder Krieg« war immer Teil meines Lebens, meines Wesens und auch Motor meines Handelns.

Die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit hat mein Denken und Handeln und damit auch meinen unbedingten Einsatz für Europa als Friedensprojekt zeit meines Lebens ganz wesentlich bestimmt.

Wer den Krieg nicht selbst erlebt hat, wer in Europa nur den Frieden kennt, wer nicht aus eigener leidvoller Erfahrung ermessen kann, welchen Wert das geeinte Europa für Frieden und Freiheit hat, und wer aufgrund noch mancher offenen Frage und ungelöster Probleme skeptisch und verunsichert fragt, was die Einigung Europas bringen soll, dem ist auch heute und für die Zukunft vor allem und immer mit auf den Weg zu geben: Frieden, und zwar Frieden und Freiheit als Voraussetzung für alles andere.

An dieser Stelle füge ich gerne ein: Natürlich hat jede Generation ihre Herausforderungen, ihre Prioritäten und Themen. Und natürlich ist das Bewusstsein für Geschichte und historische Notwendigkeiten umso stärker, wenn man Geschichte selbst und vor allem leidvoll erfahren hat.

Bezogen auf den Krieg haben die jungen Menschen bei uns heute - ausgenommen unsere Soldaten im Rahmen von Auslandseinsätzen - keine eigenen Erfahrungen mehr. Das ist Gott sei Dank so. Umso wichtiger aber ist es, dass wir den jungen Menschen und nachfolgenden Generationen erzählen und weitergeben, wo wir herkommen, was unsere Geschichte ist, was Krieg oder Frieden bedeutet und was ihre Chancen und Perspektiven für die Zukunft sind.

Und genau das müssen wir - und vielleicht noch viel stärker als bisher - tun. Wir müssen aus der Geschichte heraus das Bewusstsein für die Notwendigkeit Europas gerade auch bei den jungen und nachfolgenden Generationen wachhalten. Denn eines darf nicht geschehen: dass wir die Begründung für Europa dem Zeitgeist anheimstellen, um Europa den Jungen vermeintlich leichter verständlich zu machen.

Natürlich müssen wir die jungen Menschen auch damit für Europa begeistern, dass wir ihnen darlegen - wenn das überhaupt noch notwendig und nicht bereits Alltag ist -, welche großartigen Chancen und Möglichkeiten das geeinte Europa insgesamt für sie bietet.

Aber die erste Begründung für Europa muss nichtsdestotrotz der Frieden bleiben, und zwar in dem unauflösbaren Zusammenhang Frieden in Freiheit.

Frieden und Freiheit in einem politisch geeinten Europa bleiben zeitlos gültig die Voraussetzung dafür, dass wir und die nachfolgenden Generationen alle Chancen haben auf ein glückliches und selbstbestimmtes Leben mit allem, was neben Frieden und Freiheit dazugehört: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, soziale Stabilität und Wohlstand.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch:
"Aus Sorge um Europa" von Dr. Helmut Kohl, DroemerKnaur Verlag, Hardcover, 120 S., ISBN: 978-3-426-27663-1, 12,99 Euro
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Video: Klischees: So denken Amerikaner über Europa

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