Die Firma hatte ihrem neuen Mitarbeiter ein Zimmer zur Untermiete besorgt, und Helge fühlte sich dort gut untergebracht. Frau Kießling, seine Vermieterin, war nett, patent, redselig und wohlgerundet, und somit durchaus ansehnlich, auch machte sie wenige Umstände, war also geradezu und ehrlich heraus.
Sie, die Leipzigerin, hatte vor etlichen Jahren in ihrer Heimatstadt studiert und dann in der Datenverarbeitung gearbeitet, war aber nie glücklich damit gewesen, und nun nicht traurig, dass sie auf Kurzarbeit - ,,Null-Prozent-Kurzarbeit" - gesetzt, und dass ihr Betrieb wohl demnächst, die Verhandlungen liefen, von irgendeinem bayerischen Westunternehmen übernommen werden sollte.
Sie lebte mit ihrem sechsjährigen Sohn Daniel, einem quirligen, dunkelhäutigen Jungen mit schwarzen und kunstvoll gekräuselten Haaren in einer großen, verwohnten Fünf-Raum-Wohnung im Zentrum von Leipzig.
Der Vater von Daniel, ein Schwarzafrikaner, der seinerzeit ebenfalls in Leipzig studiert hatte, war vor Jahren, kurz vor der Geburt seines Sohnes tödlich mit seinem Motorrad verunglückt, und schon bald darauf, nach der Geburt ihres Sohnes - „Man hatte Herz gezeigt, und vielleicht auch Mitleid gehabt." -, war Frau Kießling ihre jetzige Wohnung von der zuständigen Leipziger Kommunalen Wohnraumlenkung zugewiesen worden.
Sie und ihr Sohn mussten sich damals die Räumlichkeiten mit einem älteren Ehepaar teilen, das dort, in der großen Wohnung allein (denn ihre drei Kinder waren längst aus dem Haus), schon seit Ewigkeiten gewohnt hatte, dann aber innerhalb des ersten Jahres ihres gemeinsamen Zusammenlebens, kurz hintereinander, verstorben war. ... Ohne ihr Zutun, wie Frau Kießling gegenüber Helge, dem Neu-Leipziger, wiederholt, und immer scherzhaft, versicherte.
Natürlich war es ein Scherz gewesen, es konnte gar nicht anders sein, da doch die Zimmerwirtin genau dem Typ der Krankenschwester entsprach, also dem Typ der Frau, den sich die meisten Männer immer noch wünschen, auch wenn sie es vielfach nicht wissen oder wahrhaben wollen, und diese bringen nur in den seltensten Fällen, und nur in Ausnahmesituationen - und davon konnte damals nun wirklich keine Rede sein - jemanden um die Ecke.
Seitdem lebten sie und ihr Sohn unbehelligt in der großen Wohnung, denn offensichtlich hatte man bei der kommunalen Wohnraumlenkung die Toten nicht für tot genommen, oder aber, was wahrscheinlicher war, man hatte einfach nur geschlafen, sie folglich nicht ausgetragen, sie also nicht ordnungsgemäß verwaltet und demzufolge dann versäumt, der Mieterin und ihrem Sohn neue Mittmieter zuzuweisen.
Auch hatte sich an der Miethöhe - „Das waren noch Zeiten, die heute kaum mehr wahr sind, von denen heute viele nichts mehr wissen." - für diese große und nur noch von zwei Personen bewohnte Wohnung über die Jahre nichts geändert: Monat für Monat lag sie bei 80 Mark.
Erst nach der Wende verfünffachte sich die Miete mit einem Schlag, und war dann natürlich zahlbar in DM.
Schon bei ihrem allerersten gemeinsamen Frühstück erfuhr der neue Mieter von seiner redseligen Vermieterin all dies, nämlich all das, was ihr wichtig erschien, das, was sie loswerden, das, was sie erzählen wollte.
Und Helge nahm es auf, verstand jedes ihrer Worte, obgleich er an jenem Morgen noch sehr verwirrt war, immer noch sehr verwirrt war, durcheinander gebracht durch ein Erlebnis, das ihm am späten Abend zuvor, er hatte bereits im Bett gelegen und war fast schon eingeschlafen gewesen, widerfahren war.
Denn da hatte ihn, der da allein in der Dunkelheit seines angemieteten Zimmers lag, eine Stimme angesprochen. Und es war für Helge nicht zu unterscheiden gewesen (aber eigentlich hatte er sich nicht wirklich die Mühe gemacht, eine Unterscheidung zu treffen), ob diese Stimme aus dem Nichts des Raumes oder aber aus seinem Inneren kam.
Diese Stimme, die hohl, weder männlich noch weiblich, aber sehr bestimmend, auch suggestiv, wenn auch manchmal sehr abgehackt, gewesen war, hatte sich ihm, dem Einschlafenden ,,ohne jegliche Vorwarnung heranschleichend" genähert, hatte sich also, aus dem Nichts kommend, an ihn gewandt, ... ihn geradezu okkupiert.
Und es war somit für ihn kein Zweifel möglich gewesen, dass nur er der Angesprochene war, dass nur ihm, da in der Dunkelheit, etwas geschah, was nur für ihn bestimmt und nur für ihn von Bedeutung war, ...denn allzu deutlich hatte er die Verbindung, besser gesagt, das „Eingebunden sein in eine Zusammengehörigkeit" verspürt, hatte auch jedes einzelne Wort dieser unwirklich-wirklichen Stimme vernommen, gleichsam eingesogen, und deshalb auch war ihm jedes Wort im Gedächtnis geblieben, sodass er sich noch an jenem Morgen das in der Nacht zuvor Gesagte, und zwar absolut jedes Detail, in Erinnerung rufen konnte.
Er hatte also jedes der Worte aufgenommen und verinnerlicht, wohl auch deshalb, weil die Stimme ihm von Anfang an unmissverständlich deutlich gemacht hatte, dass nur sie zu reden, und deshalb er nur zuzuhören, zu verstehen und aufzunehmen hatte - ohne Wenn und Aber.
Und so war Helge der nächtliche Monolog (es war tatsächlich nur ein Monolog, ... eben nur Sprechender einerseits und Zuhörender andererseits - es ging gar nicht anders) dieser Stimme im Gedächtnis geblieben.
Wolf Mann: „Helges Leipziger Jahre", Roman, 160 Seiten, 9,99 Euro, ISBN: 9783737513333
Sie, die Leipzigerin, hatte vor etlichen Jahren in ihrer Heimatstadt studiert und dann in der Datenverarbeitung gearbeitet, war aber nie glücklich damit gewesen, und nun nicht traurig, dass sie auf Kurzarbeit - ,,Null-Prozent-Kurzarbeit" - gesetzt, und dass ihr Betrieb wohl demnächst, die Verhandlungen liefen, von irgendeinem bayerischen Westunternehmen übernommen werden sollte.
Sie lebte mit ihrem sechsjährigen Sohn Daniel, einem quirligen, dunkelhäutigen Jungen mit schwarzen und kunstvoll gekräuselten Haaren in einer großen, verwohnten Fünf-Raum-Wohnung im Zentrum von Leipzig.
Der Vater von Daniel, ein Schwarzafrikaner, der seinerzeit ebenfalls in Leipzig studiert hatte, war vor Jahren, kurz vor der Geburt seines Sohnes tödlich mit seinem Motorrad verunglückt, und schon bald darauf, nach der Geburt ihres Sohnes - „Man hatte Herz gezeigt, und vielleicht auch Mitleid gehabt." -, war Frau Kießling ihre jetzige Wohnung von der zuständigen Leipziger Kommunalen Wohnraumlenkung zugewiesen worden.
Sie und ihr Sohn mussten sich damals die Räumlichkeiten mit einem älteren Ehepaar teilen, das dort, in der großen Wohnung allein (denn ihre drei Kinder waren längst aus dem Haus), schon seit Ewigkeiten gewohnt hatte, dann aber innerhalb des ersten Jahres ihres gemeinsamen Zusammenlebens, kurz hintereinander, verstorben war. ... Ohne ihr Zutun, wie Frau Kießling gegenüber Helge, dem Neu-Leipziger, wiederholt, und immer scherzhaft, versicherte.
Natürlich war es ein Scherz gewesen, es konnte gar nicht anders sein, da doch die Zimmerwirtin genau dem Typ der Krankenschwester entsprach, also dem Typ der Frau, den sich die meisten Männer immer noch wünschen, auch wenn sie es vielfach nicht wissen oder wahrhaben wollen, und diese bringen nur in den seltensten Fällen, und nur in Ausnahmesituationen - und davon konnte damals nun wirklich keine Rede sein - jemanden um die Ecke.
Seitdem lebten sie und ihr Sohn unbehelligt in der großen Wohnung, denn offensichtlich hatte man bei der kommunalen Wohnraumlenkung die Toten nicht für tot genommen, oder aber, was wahrscheinlicher war, man hatte einfach nur geschlafen, sie folglich nicht ausgetragen, sie also nicht ordnungsgemäß verwaltet und demzufolge dann versäumt, der Mieterin und ihrem Sohn neue Mittmieter zuzuweisen.
Auch hatte sich an der Miethöhe - „Das waren noch Zeiten, die heute kaum mehr wahr sind, von denen heute viele nichts mehr wissen." - für diese große und nur noch von zwei Personen bewohnte Wohnung über die Jahre nichts geändert: Monat für Monat lag sie bei 80 Mark.
Erst nach der Wende verfünffachte sich die Miete mit einem Schlag, und war dann natürlich zahlbar in DM.
Schon bei ihrem allerersten gemeinsamen Frühstück erfuhr der neue Mieter von seiner redseligen Vermieterin all dies, nämlich all das, was ihr wichtig erschien, das, was sie loswerden, das, was sie erzählen wollte.
Und Helge nahm es auf, verstand jedes ihrer Worte, obgleich er an jenem Morgen noch sehr verwirrt war, immer noch sehr verwirrt war, durcheinander gebracht durch ein Erlebnis, das ihm am späten Abend zuvor, er hatte bereits im Bett gelegen und war fast schon eingeschlafen gewesen, widerfahren war.
Denn da hatte ihn, der da allein in der Dunkelheit seines angemieteten Zimmers lag, eine Stimme angesprochen. Und es war für Helge nicht zu unterscheiden gewesen (aber eigentlich hatte er sich nicht wirklich die Mühe gemacht, eine Unterscheidung zu treffen), ob diese Stimme aus dem Nichts des Raumes oder aber aus seinem Inneren kam.
Diese Stimme, die hohl, weder männlich noch weiblich, aber sehr bestimmend, auch suggestiv, wenn auch manchmal sehr abgehackt, gewesen war, hatte sich ihm, dem Einschlafenden ,,ohne jegliche Vorwarnung heranschleichend" genähert, hatte sich also, aus dem Nichts kommend, an ihn gewandt, ... ihn geradezu okkupiert.
Und es war somit für ihn kein Zweifel möglich gewesen, dass nur er der Angesprochene war, dass nur ihm, da in der Dunkelheit, etwas geschah, was nur für ihn bestimmt und nur für ihn von Bedeutung war, ...denn allzu deutlich hatte er die Verbindung, besser gesagt, das „Eingebunden sein in eine Zusammengehörigkeit" verspürt, hatte auch jedes einzelne Wort dieser unwirklich-wirklichen Stimme vernommen, gleichsam eingesogen, und deshalb auch war ihm jedes Wort im Gedächtnis geblieben, sodass er sich noch an jenem Morgen das in der Nacht zuvor Gesagte, und zwar absolut jedes Detail, in Erinnerung rufen konnte.
Er hatte also jedes der Worte aufgenommen und verinnerlicht, wohl auch deshalb, weil die Stimme ihm von Anfang an unmissverständlich deutlich gemacht hatte, dass nur sie zu reden, und deshalb er nur zuzuhören, zu verstehen und aufzunehmen hatte - ohne Wenn und Aber.
Und so war Helge der nächtliche Monolog (es war tatsächlich nur ein Monolog, ... eben nur Sprechender einerseits und Zuhörender andererseits - es ging gar nicht anders) dieser Stimme im Gedächtnis geblieben.
Wolf Mann: „Helges Leipziger Jahre", Roman, 160 Seiten, 9,99 Euro, ISBN: 9783737513333