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8 Irrtümer über das Leben mit einer Lähmung

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Vor nur drei Jahren war ich gegenüber der Realität eines Lebens mit Lähmung völlig ignorant. Ich wusste nicht, was es bedeutete eine Rückenmarksverletzung zu haben oder wie die Welt damit aussieht.

Eine Welt von der ich mir nie vorgestellt hätte, dass ich so jung einmal Teil davon werden würde. Nachdem meine Geschichte in den Medien veröffentlicht wurde, gingen die von Fehlinformationen durchsetzten Spekulationen los - viele davon landeten in den Kommentaren unter den Artikeln über mich.

Ich habe immer gerne Kommentare gelesen, weil ich so die Gedanken anderer Menschen sehen kann - und ich bin halt neugierig. Ich merkte schnell, dass es viele falsche Annahmen über meine Situation gab. „Ist sie nicht querschnittsgelähmt?" „Sie kann weder Sex haben noch Kinder bekommen - ihr Mann sollte sie verlassen." „Ihr Mann wird ab jetzt alles für sie tun müssen." Ich wäre am liebsten durch den Bildschirm gesprungen, um den Leuten mitzuteilen, dass sie das alles völlig falsch verstanden haben.

Wenn sie nicht selber gelähmt sind oder jemanden kennen, der gelähmt ist, wie konnten sie es sich da anmaßen vorzugeben, alles über unser Leben zu wissen. Ich möchte hier also ein für alle Mal die Missverständnisse aus dem Weg räumen.

1) Wir können keinen Sex haben.

Fangen wir direkt damit an, dann haben wir das hinter uns: Gelähmte Menschen können intim werden - und ja, auch wir können das genießen. Ich möchte hier nicht zu bildlich werden, aber lassen Sie uns mal einen Moment über die menschliche Anatomie nachdenken. Es ist nicht so, als ob der Laden dicht macht, nur weil man gelähmt ist. Ist das, was man fühlt beeinträchtigt? Bei manchen Menschen schon. Aber oft werden andere erogene Zonen dafür umso empfindlicher. Forscher haben außerdem herausgefunden, dass es Nerven gibt, die mit sexueller Lust zu tun haben und die völlig am Rückenmark vorbeilaufen.

2) Wir können keine Familie gründen.

Ich werde oft gefragt, ob ich Kinder haben kann. Die Antwort darauf lautete: Ja. Die Lähmung beeinträchtigt das Fühlen und die Beweglichkeit, nicht die Gebärmutter. Es gibt Faktoren die eine Schwangerschaft bei mir erschweren würden, wie mein niedriger Blutdruck und meine Nervenschmerzen, auch neuropathische Schmerzen genannt. Ich muss für beides Medikamente nehmen, die ich absetzen müsste, wodurch ich während der Schwangerschaft zur Bettruhe verdonnert wäre. Das ist jedoch nicht der Regelfall. Mein Mann und ich wünschen uns mehr als alles andere ein Kind und hoffen, dass wir irgendwann eine Leihmutter finden werden. Aber das ist natürlich eine sehr teure Variante. Falls das nicht geht, werde ich wohl die Zähne zusammenbeißen und für neun Monate flachliegen. Solange ich das mache, geht es dem Baby gut - nur ich werde mich zu Tode langweilen. Ich kenne paraplegische und quadriplegische Frauen die Mütter sind und ihre Kinder aufziehen, wie jeder andere auch. Man muss sich nur an die Situation anpassen.

3) Quadriplegiker sind vom Hals abwärts gelähmt.

Da ist eine absolute Fehleinschätzung. Ein Quadriplegiker ist jemand, der an allen vier Extremitäten eingeschränkt ist. Bei mir betrifft es den Trizeps und die Fingerfertigkeit. Die Lähmung tritt also nicht immer in einer geraden Linie im Körper auf. Die meisten Menschen scheinen zu glauben, dass die Lähmung entweder von der Taille abwärts oder vom Hals abwärts auftritt. Dafür ist der Körper jedoch viel zu komplex. Lassen Sie sich nicht von meinem beeindruckenden Bizeps täuschen - ich bin 100 % quadriplegisch.

4) Die Krankenversicherung bezahlt alles was wir brauchen.

Krankenkassen sind doof. Vor ein paar Monaten war ich beim Physiotherapeuten, damit dieser mir eine Bescheinigung für ein bestimmtes Gerät ausstellt. Es ging um ein Antriebsrad, das hinten an meinem manuellen Rollstuhl angebracht wird, um mich so zu unterstützen. Ich musste dafür kämpfen, dass mir dieses Rad genehmigt wurde, hätte aber ohne Diskussion einen elektrischen Rollstuhl bekommen, der mehr als das Vierfache kostet. Das ergibt für mich keinen Sinn. Viele Alltagsgegenstände werden als Luxusartikel eingestuft und werden daher nicht bezahlt. Und vor allem zahlt die Kasse nicht die Anpassungen, die in der Wohnung oder am Auto vorgenommen werden müssen. Alleine die Überprüfung, ob ich fahrtauglich bin, hat ein halbes Monatsgehalt gekostet. Die Krankenkasse deckt also bei weitem nicht alles ab.

5) Wir sind schlampig und faul.

Das ist etwas, das nicht auf den Großteil von uns zutrifft. Mal ganz davon abgesehen: Es gibt genügend nicht gelähmte Menschen, die schlampig und faul sind, oder? Viele von uns ziehen sich ordentlich an, machen die Kinder fertig, gehen arbeiten oder einkaufen, kochen das Essen, führen den Hund aus, putzen das Haus und zahlen die Rechnungen. Wenn Sie das Bild von jemandem im Kopf haben, der drei Tage lang die gleiche Jogginghose trägt und die ganze Zeit nur fernsieht - können Sie vergessen! Das ist ein Stereotyp, nicht die Norm.

6) Wir sind unsportlich.

Haben Sie den Film Murderball gesehen? Er ist sehr empfehlenswert, falls Sie ihn noch nicht kennen. Vielen Menschen mit Behinderung treiben Sport und nicht nur für ein Schulterklopfen und einen feuchten Händedruck. Natürlich spielen manche Menschen nur zum Spaß und um sich zu bewegen, aber natürlich gibt es auch welche, die spielen um zu gewinnen. Ich zum Beispiel spiele Rollstuhl-Rugby und ich werde oft gefragt, ob ich zu den Paralympics fahre. Haha, ich wünschte, es wäre so. Zu den Paralympics kann nicht jeder einfach hinfahren. Wie in jeder olympischen Disziplin muss man jahrelang trainieren, um das Niveau zu erreichen. Menschen mit einer Rückenmarksverletzung, die Sport treiben, sind wirklich keine Seltenheit. Sie sind meiner Erfahrung nach sogar eher die Regel. Viele von uns sind sehr umsichtig, wenn es um unsere Gesundheit geht - weil wir es eben auch sein müssen.

7) Unser größter Wunsch ist es, gehen zu können.

In der Nacht als mir mitgeteilt wurde, dass meine Lähmung dauerhaft sein würde, dachte ich, dass das tatsächlich mein grö0ßtes Problem sein würde. Aber ich habe mich total geirrt. Ich persönlich würde ausflippen vor Freude, wenn meine Finger so funktionieren würden wie sie sollen. Viele Menschen sagen mir, dass sie für mich beten und dafür dass ich eines Tages wieder gehen kann. Dafür bin ich ja auch sehr dankbar, aber lasst uns doch mal mit der Handfunktion, dem Trizeps, den Bauchmuskeln, dem Fühlen und der Blasen- und Darmfunktion anfangen. Denn das sind die Dinge, die einen Quadriplegiker wirklich in der Abhängigkeit halten. So ungern ich auch in einem Rollstuhl sitze, durch ihn bin ich wenigstens unabhängig mobil. Es gibt so viele andere Probleme, für die ich keine Lösung parat habe.

8) Wir liegen dem Staat auf der Tasche und finden das gut.

Ääh, nein, sicher nicht. Also erstens haben viele Menschen mit Behinderung einen Uniabschluss und einen angesehen Beruf. Andere wollen nichts lieber, als einen Job zu finden. Das ist heutzutage ja sowieso nicht leicht, aber nun stellen Sie sich die Jobsuche mal mit einer Behinderung vor: Wir müssen darauf achten, einen Job zu finden, für den wir qualifiziert sind und den wir auch körperlich in der Lage sind zu tun. Und natürlich müssen wir dann noch die ganzen nicht behinderten Menschen ausstechen, die sich auf die gleiche Stelle bewerben. Ein weiteres Hindernis ist die Tatsache, dass manche notwendige Pflegeleistungen nur vom Staat übernommen werden, solange wir auf einem Hartz-IV-ähnlichen Niveau leben. Verdienen wir unser Geld selber und kommen dabei über einen bestimmten (nicht sehr hohen) Betrag, müssen wir selber dafür aufkommen, sodass vom Gehalt nichts überbleibt. Sie können sich das so vorstellen, als wenn Sie einen zweiten Kredit dafür aufnehmen müssten, morgens aus dem Bett zu kommen. Sie brauchen also nicht davon auszugehen, dass wir alle bloß auf der faulen Haut liegen.

Ich muss gestehen, bevor ich meinen Unfall hatte, habe diese Annahmen selber für wahr gehalten. Ich musste es erst am eigenen Leib erfahren, um die Wahrheit zu erkennen - ich hoffe, ich konnte sie Ihnen auch so etwas näherbringen. Manche Punkte auf meiner Liste kommen Ihnen vielleicht zu krass vor, als dass wirklich jemand so etwas glauben könnte - aber so sieht die Realität aus. Gelähmt zu sein ist kein Zuckerschlecken. Es macht mir auch keinen Spaß und ich hätte lieber heute als morgen eine Heilung dafür. Aber bis es soweit ist, ist unser Leben einfacher je mehr Menschen unsere Situation verstehen.

Rachelle schreibt regelmäßig für themobilityresource.com, wo auch dieser Artikel zuerst veröffentlicht wurde: http://www.themobilityresource.com/setting-the-record-straight-8-misconception-about-life-with-paralysis/

Foto von Revolution Studios

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