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Wenn schlechte Eltern zu guten Großeltern werden

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Als Kind verbrachte Ed White nur wenig Zeit mit seinem Vater, der sich in einem Kraftwerk vom Techniker zum Vorstandsmitglied hocharbeitete. Sein Vater machte jede Menge Überstunden und verließ frühmorgens das Haus, um erst am späten Abend wieder heimzukommen. Nach dem Abendessen las er die Zeitung und ging dann in sein Arbeitszimmer, um noch ein bisschen mehr zu arbeiten.

„Unsere Interaktionen waren meist kurz und von Anweisungen oder Strafmaßnahmen geprägt", erinnert sich White, der mittlerweile 52 Jahre alt ist und in Pennsylvania lebt. „Ich wünschte mir diese typischen Vater-Sohn-Momente, wo man gemeinsam im Garten Ball spielt, aber die gab es einfach nie."

Als jedoch Whites erstes Kind auf die Welt kam - ein Junge, der mittlerweile das College besucht - veränderte sich sein Vater. „Er wurde zu dem gütigen Großvater, den ich mir erhofft hatte, und entwickelte zu meinem Sohn eine so innige Beziehung, wie ich sie mir zwischen uns beiden gewünscht hätte", erinnert sich White. Sein Vater verbrachte viele Stunden mit dem Baby, und als sein Enkel größer wurde, nahm er ihn gerne zum Angeln mit. Auch wenn Whites Vater bereits 2000 starb, hatte er doch die Chance, sowohl seinen Enkel als auch seine zwei Jahre später geborene Enkeltochter aufwachsen zu sehen. Eine Erfahrung, die ihn Whites Beschreibung nach mit ungetrübter Freude und großem Staunen erfüllte.

Enkelkinder geben vielen Menschen, die nicht übermäßig gute oder hingebungsvolle Eltern waren, vor allem eines: die Chance, es wieder gut zu machen. „Enkelkinder zu bekommen bedeutet, wieder von vorn anfangen zu können. Das höre ich immer wieder", so Lori Bitter, die für GRAND, ein Online-Magazin für Großeltern, arbeitet.

Sobald jedoch Großmütter und Großväter diese zweite Chance ergreifen, ist dies selten unkompliziert, sondern stiftet eher Verwirrung darüber, wo genau dieser neue Mensch denn eigentlich herkommt. Denn wie reagieren ihre eigenen Kinder darauf, wenn ein Vater, der so gut wie nie zu Hause war, auf einmal eine feste Größe im Leben seiner Enkel ist, oder eine strenge Mutter zu einer herzlichen, nachsichtigen Großmutter wird?

Kinder zu haben oder Enkelkinder zu haben ist in vieler Hinsicht eine völlig unterschiedliche Erfahrung - wobei Ersteres wesentlich anstrengender und anspruchsvoller ist. Zum Beispiel stehen viele Großeltern nicht mehr unter dem finanziellen Druck, den sie noch als Eltern hatten. Außerdem sind sie nicht dafür verantwortlich, sich Tag für Tag um die Sicherheit und das Wohlergehen eines Kindes zu kümmern (auch wenn immer mehr Großeltern in den USA die Erziehungsberechtigten ihrer Enkel sind).

„Großeltern verbringen nur eine begrenzte Zeit mit ihren Enkelkindern", fügt Christine Lawlor hinzu, eine Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Connecticut. „Das ist mit relativ wenig Stress oder Druck verbunden." Menschen, die keine Vorzeige-Eltern waren, weil sie diese wirklich schwierige Aufgabe einfach überfordert oder erschöpft hat, können nun die Dinge gelassener angehen und sich mit mehr Bedacht verhalten. Mit anderen Worten: sie sind abgeklärter.

Forschungen legen zudem den Schluss nahe, dass die Zufriedenheit mit dem Alter steigt. Männer und Frauen gaben an, sich im Alter von 65 Jahren oder darüber am glücklichsten zu fühlen. Experten sprechen von einer sogenannten U-Kurve: Das eigene Glücksempfinden steigt bis zum Alter von 30 Jahren an, sinkt dann in der Lebensmitte ab - wenn Menschen laut eigener Aussage die meisten Sorgen haben - und geht dann mit zunehmendem Alter wieder nach oben. Experten nehmen an, dass dieser Sinneswandel mit der Weisheit des Alters zusammenhängt. Denn ältere Männer und Frauen neigen zu einer anderen Sichtweise in Bezug auf weltliche Ziele und Errungenschaften. „Je älter man ist, desto wichtiger werden die Beziehungen zu anderen Menschen", erklärt Lawlor.

Ed White zum Beispiel glaubt nun zu verstehen, warum sein Vater nicht der hingebungsvolle Vater war, den er sich so sehr gewünscht hat. Denn er sah seine Aufgabe darin, seine Familie finanziell abzusichern und für Disziplin zu sorgen - nicht mehr und nicht weniger. Vor seinem Tod sprach White mit seinem Vater darüber, wie schade er es fand, dass sie früher nie zusammen Ball spielten oder gemeinsam Gartenarbeit erledigten. „Er entschuldigte sich nicht für seine Entscheidung ... aber war in gewisser Hinsicht traurig, dass er die Gelegenheit zu diesen gemeinsamen Aktivitäten verpasst hatte."

Wenn distanzierte oder immerzu beschäftige Eltern auf einmal zu hingebungsvollen Großeltern werden, hat das nicht selten einen läuternden Effekt - der die gestörte Beziehung zu ihren eigenen Kindern heilen kann. „Als ich Großmutter wurde, erkannte ich die vielen Freuden, die mir und damit auch meinen Kindern damals entgangen sind", so Christine Crosby, Chefredakteurin der Zeitschrift GRAND. „Deswegen bin ich wild dazu entschlossen, dies bei meinen Enkeln, und somit auch bei meinen Töchtern, wieder gut zu machen."

Chrissy, eine 33-jährige Mutter zweier Kleinkinder (die nur um Nennung ihres Vornamens bat), erzählte, dass ihr Vater wenig Talent für die Kindererziehung mitbrachte. Er neigte zu Wutausbrüchen und hatte keine Geduld mit seinen sechs Kindern. Als Großvater ist er jedoch ein völlig anderer Mensch. Er überhäuft Chrissys Söhne mit Geschenken und möchte mit ihnen nach Disney World fahren. „In gewisser Weise vergöttert er die beiden", meint sie. „Er würde sprichwörtlich alles für sie tun ... Er versucht immerzu, sich so um sie kümmern, wie er sich nie um uns gekümmert hat."

Chrissys Vater gibt seiner Tochter gegenüber regelmäßig zu, dass er kein guter Vater war, und entschuldigt sich dafür in den seltsamsten Momenten. „Es ist komisch, wenn es passiert", berichtet Chrissy. „Zum Beispiel versucht er - vergeblich - ein Elektrogerät zu reparieren und sagt dann plötzlich: ‚Weißt du, ich gebe mir wirklich alle Mühe. Ich weiß, dass ich nicht der beste Vater war, aber ich tue mein Bestes.' Diese Äußerungen macht er dann ganz spontan in Momenten wie diesen." Chrissy gibt zu, dass diese Reue in Verbindung mit seiner Hingabe als Großvater ihr hilft, ihren Vater in einem neuen Licht zu sehen.

Eine Entschuldigung ist überaus wichtig, meint auch Dr. Arthur Kornhaber, ein Psychiater, der im Rahmen seiner Tätigkeit für die von ihm in den 70er Jahren gegründete „Foundation for Grandparenting" ein Lager für Großeltern und ihre Enkel organisiert. Kornhaber nimmt dabei allein die Großeltern in die Pflicht. Jeder, der die Beziehung zu seinen Enkelkindern und seinen eigenen Kindern verbessern möchte, sollte vor der Geburt eines Babys reinen Tisch machen und fragen: ‚Wie kann ich dir helfen? Worüber machst du dir Sorgen? Sagst du mir bitte, wenn ich etwas falsch mache?' Denn diese Form der offenen, uneigennützigen Kommunikation ist ganz schön schwierig."

In einigen Fällen trägt die Transformation von Eltern zu Großeltern allerdings nur wenig dazu bei, gestörte Beziehungen zu reparieren. Rachel, die ebenfalls nur um Nennung ihres Vornamens gebeten hatte, ist eine 42-jährige Mutter von drei Mädchen im Alter von 15, 13 und 10 Jahren. Sie erzählt, dass ihre eigene Mutter zwar nach Kräften versuchte, eine gute Mutter zu sein, aber zu explosiven Wutausbrüchen neigte." Dennoch vergöttern Rachels Töchter ihre Großmutter. Sie suchen ihre Nähe, möchten unbedingt Zeit mit ihr verbringen, gehen mit ihr essen und übernehmen sogar ehrenamtliche Tätigkeiten in ihrer Kirche. Rachels Mutter liebt ihre Enkelkinder über alles und hat bisher nur ein oder zwei Mal die Geduld mit ihnen verloren - Situationen, an die sich Rachel vor allem deswegen noch genau erinnert, weil sie die absolute Ausnahme waren. Rachel vermutet, diese Wesensänderung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ihre Mutter jetzt weniger gestresst ist als damals. Und sie ist unheimlich froh darüber, dass ihre Töchter eine so enge Bindung zu ihrer Großmutter haben.

Allerdings bleibt die eigene Beziehung zur Mutter weiterhin angespannt. „Auch wenn sie eine wirklich tolle Großmutter ist, heißt das noch lange nicht, dass sie nun auch eine bessere Mutter ist", so Rachel.

Es gab Zeiträume - die sich manchmal über Monate hinzogen - in denen die beiden nicht miteinander sprachen. Aber es vergehen kaum eine Woche oder vierzehn Tage, ohne dass Rachels Töchter ihre Großmutter sehen. Rachel hat mittlerweile akzeptiert, dass sie niemals eine perfekte Beziehung zu ihrer Mutter haben wird. Stattdessen ist sie für das dankbar, was sie hat: einen liebevollen Stiefvater und drei wunderbare Töchter, die ihre Großmutter ebenso sehr lieben, wie Rachel ihre eigene Großmutter liebte.

„Und genau das habe ich mir für sie gewünscht, diese wirklich innige Beziehung", erläutert Rachel. „Ich selbst spiele dabei überhaupt keine Rolle."

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