Heiner Goebbels' "Surrogate Cities Ruhr" bei der Ruhrtriennale uraufgeführt
DUISBURG. Heiner Goebbels (62) berichtet, er habe sich zu seinen "Surrogate Cities" ("Ersatzstädte") nicht von einer Stadt, sondern von Städten überhaupt anregen lassen. Seit der Uraufführung 1994 ist seine Komposition immer wieder in aller Welt gespielt worden. Eine Besonderheit der Aufführung am Samstag in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord: Goebbels nennt diese Aufführung spezifisch(er) "Surrogate Cities Ruhr" - der Komponist, der in den letzten drei Jahren die Ruhrtriennale geleitet hat, bedankt sich mit der Spezifizierung seiner Komposition für das Ruhrgebiet bei seinem Auftraggeber. Dieses AufdenLeibschneidern hat es in sich:
MusikGeräuschLärm
Die Bochumer Symphoniker betonen unter der Leitung von Steven Sloane das Geräuschhafte. Heiner Goebbels hat sich offenbar unter anderem vom Verkehr inspirieren lassen, weniger von Autos, mehr von Bahnen: Eisenbahnen, Straßen- und U-Bahnen. Die Streicher können fast genauso nervenzerreißend quietschen wie die Bremsen in Duisburgs Bahnen. Das Tempo der Bochumer ist oft rasch, der Rhythmus wechselt unvorhersehbar - Fetzen einer Großstadtmelodie.
Die Besonderheit, die die Aufführung zur Uraufführung adelt, ist die Verwandlung von Goebbels' "Surrogate Cities" in ein Tanztheaterstück: Mathilde Monnier hat eine „Choreographie für das Ruhrgebiet" entworfen, in der sage und schreibe 130 Tänzer auftreten - Laien, Bürger der Region; Kinder. Es ist ein zentrales Anliegen Heiner Goebbels', eine Kunst zu schaffen und ein Programm, das keine Hürde gegenüber Zuschauern aufbaut - Kunst für alle! Hier geht Goebbels praktisch noch weiter: die Laien werden ins Bühnengeschehen einbezogen - und zwar zentral: Star des Abends ist das riesige Corps.
Jeder ist ein Künstler
Mathilde Monnier führt in ihrer übersichtlichen Choreographie die Generationen teilweise getrennt vor: bei den Kindern und Jugendlichen wird klar, welche (künstlerischen) Potentiale in ihnen ruhen, bei den älteren Semestern, was aus ihnen hätte werden können, hätten sie ihre Talente systematisch entfaltet. Der Tanzsportklub Dortmund e.V. zeigte in ganz gewöhnlichen Mitbürgern elegante Löwinnen und erotische Panther, die im Alltag unerkannt an uns vorübereilen.
Was die Entfaltung des Potentials bedeutet, zeigten die Profis. Jocelyn B. Smith, eine Sängerin aus New York, wurde trotz ihres Temperaments und ihres frappierenden Ausdrucksreichtums noch in den Schatten gestellt von David Moss. Moss hat einen sonoren Bass und beginnt (auf Amerikanisch) von der Stadt zu erzählen, teils banal, dann wieder poetisch - schließlich bricht er auf in Gefilde jenseits der Sätze, der Grammatik, der Logik und der Worte. Wie Kurt Schwitters in seiner Ursonate formt Moss nur Silben, schleudert Bedeutungsschwangeres heraus, das unverständlich bleibt, weil er sich ebenso lust- wie humorvoll und exzessiv in den Dschungeln des Expressiven verliert.
Hell und dunkel
Diese Stärke des Abends ist gleichzeitig seine Schwäche. Die überwältigende Vielfalt, die Wirrnis, das Chaos triumphieren, das Analytische bleibt auf der Strecke. Wer hat das Sagen in der Stadt, die Macht? Wer muss parieren? Wie breit ist der Graben, wie tief der Abgrund zwischen Reich und Arm? Auf gesellschaftskritische Fragen bleibt „Surrogate Cities Ruhr" Antworten schuldig.
Mathilde Monnier und Heiner Goebbels überfrachten den Abend mit Klängen und Bildern, lassen ihn aber nicht ausufern - er endet nach neunzig an- und aufregenden Minuten. Der Beifall mündete in lauten Jubel: Anerkennende Pfiffe und begeistertes Getrampel feierten die Künstler. Die Ruhrmetropole hat einen künstlerischen Ausdruck gefunden, der, trotz einiger Einwände, schwer zu übertreffen sein dürfte.
Ulrich Fischer
Kartentelefon: 0221 280 210 - Internet: www.ruhrtriennale.de
Aufführungen am 26. und 27. Aug. - Spieldauer 90 Min.