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Lifestyle des Loslassens

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Die Fähigkeit, äußere Unsicherheiten in den Zustand einer nach innen gerichteten Sicherheit zu verwandeln, zeichnete bereits die amerikanischen Ureinwohner aus, die John Collier in seiner Studie „Indians of gehe Americas" (1947) beschrieben hat: Der Indianer hatte das Ziel, ein ganzheitliches Leben trotz materieller Not zu führen. Vor dem Hintergrund der Instabilität krisenhafter Entwicklungen werden Status und Besitz einen immer geringen Stellenwert in der Gesellschaft erhalten. Auch für Designer wie Wolfgang Joop besteht eine andere Lösung, auf unsere Zeit zu reagieren darin, „sich zu entmaterialisieren, sich zu entziehen. Man ist ja nur angreifbar, wenn man aus Materie besteht. Also weg mit allem! Mit Status und Lifestyle und alldem, was zu erwerben uns so wichtig war - loswerden! Entsorgen!" („Undressed", 2013).

Was heute wirklich zählt, ist Zugang statt Besitz. Dabei haben Sharing Economy und der heutige Lifestyle des Loslassens (Lifestyle of Relief and Fun) mit Bescheidenheit wenig zu tun: Das Gute ist hier keine kategorische Verpflichtung - die Konsumfeindlichkeit und Askeseneigung der alten Ökobewegung ist vielmehr einem konsumorientierten Lebensstil gewichen, in dem weniger Besitz, Genuss und Verantwortung keine Gegensätze mehr sind.

Der Gedanke des Teilens und Tauschens gehört zwar zu den ältesten sozialen und wirtschaftlichen Grundprinzipien des Menschen, doch gewinnt diese Idee im digitalen Zeitalter eine ungeahnte Kraft und ökonomische Bedeutung, denn der Warenumschlag erhöht sich deutlich durch Sharing Economy. Längst ist sie eine globale Bewegung, die sich online vernetzt, um eine erweiterte Art des Konsumierens zu etablieren und die Dinge mehr zu achten. In den Humanwissenschaften wird von einem „material turn" gesprochen.

Im Internet wächst die Beliebtheit von Begriffen wie „minimalist". In der analogen Welt zeugt auch Car- oder Wohnungssharing vom schrumpfenden Interesse am Besitz. Das biblische Motto des 34. Deutschen Evangelische Kirchentages „Soviel du brauchst" bestätigt diesen Prozess der Nachhaltigkeit: „Gebrauche nur so viel, wie da ist!" Allerdings sollte auch berücksichtigt werden, dass die „Sharing-Generation" auch materiell in weniger sicheren Verhältnissen lebt als die Generationen vor ihnen.

Unfreiwillig meist von Haus aus ist auch der besitzlose Kyniker der Antike. Was ihm gehört, trägt er am eigenen Leib. Peter Sloterdijk bezeichnete in seiner „Kritik der zynischen Vernunft" (1983) den Philosophen Diogenes als den „Impulsgeber des Kynismus" und „Urvater des Selbsthilfegedankens": ein gewitzter Asket, der sich durch Distanzierung und Ironisierung von Bedürfnissen auszeichnete. Er brachte die ursprüngliche Verbindung zwischen Bedürfnislosigkeit, Geist und Glück - kurz: „das intelligente Leben" - in die westliche Philosophie. All das schließt leibhaftige Genüsse wie Kuchen essen und Wein trinken ein, wenn darauf genauso gut auch verzichtet werden kann. Richte dich ein, aber halte die Koffer bereit.

Es ging ihm nicht um eine Dogmatik der Armut, sondern um das Loslassen von allen Gewichten, die das Leben bewegungslos machen. Die Maus wurde für ihn zum Symbol der Genügsamkeit: „...die weder eine Ruhestätte suchte noch die Dunkelheit mied, noch irgendwelches Verlangen zeigte nach sogenannten Leckerbissen." (Diogenes Laertius, VI, 22)

Vordenker der Nachhaltigkeit wie Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker ("Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum") und Ralf Fücks („Intelligent wachsen") betonen ebenfalls, dass wir auf eine Zivilisation zugehen müssen, in der Tugenden der Genügsamkeit wieder mehr Beachtung erfahren sollten. Maßlosigkeit und Gier seien kein Leitwert für eine stabile, überlebensfähige Gesellschaft. Sich in ihr einzurichten, bedeutet nicht, auf jede Art von Komfort zu verzichten. Worauf es ankommt ist, auf Veränderungen gefasst zu sein und alles, was geschieht, als „vorübergehende Episode" zu begreifen.

Weise ist, wer überall leben kann, weil Innen- und Außenwelt für ihn übereinstimmt. Diese Einsicht zeigte er seinen Mitbürgern in der Tonne, weil ein „komfortabel eingerichteter Diogenes ihnen niemals so großen Eindruck gemacht hätte wie dieser verarmte, deklassierte Weise auf dem Nullpunkt der Architektur", so Peter Sloterdijk, der schon vor 30 Jahren dafür plädiert hat, das Erbe des Diogenes zu begreifen, das keine Mülltonnenromantik ist und keine Schwärmerei vom „einfachen Leben". Die Stunde des Kynismus ist die Lebensphilosophie der Krise. Unter seinem Zeichen sind Glück und Nachhaltigkeit auch im Ungewissen möglich. So heißt es auch im 1807 von Joachim Heinrich Campe herausgegebenen Wörterbuch der deutschen Sprache: „Nachhalt" ist das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält".

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