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Umgang mit Queerphobie?! Teil 5: Mangel an Alltagserfahrungen

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Die letzten vier Artikel mit einer Definition und sieben Thesen haben versucht, den Blick für Gründe von Queerphobie zu öffnen. Dieser Artikel mit einer weiteren These - so kurz nach der Faschingszeit - wird vorbereiten auf die Frage des angemessenen Umgangs mit queerphoben Verhaltensweisen.

These 8: Queerphobie hat mit der Angst vor Rollenwechseln zu tun

Warum finden manche von uns Fasching oder Karneval so angenehm und befreiend? Die gesellschaftliche Tradition aus dem westdeutschen Raum erlaubt uns, während eines begrenzten Zeitraums in Rollen zu schlüpfen oder Handlungen zu begehen (Weiberfasnacht), die wir uns im Alltag nicht erlauben würden. Meist in Kombination mit Alkohol darf der „Narr" oder „Jeck" die Oberhand gewinnen, sich über die Normalität lustig machen und alternative Identitäts- und Beziehungskonzepte ausleben. „Jeder Jeck ist anders" wird zur Devise und je verrückter, in gewissen Grenzen, desto größer ist die Anerkennung.

Doch mit Blick auf Faschingsmuffel merkt man_frau, dass nicht jeder davon begeistert ist: „Ich mag mich nicht verkleiden, da ich lieber so bin wie ich bin." „Ach, dieses verrückte Treiben finde ich nicht lustig." „Ich habe keine Lust auf ausgefallene Faschingskostüme. Was sollten die Leute von mir halten?" Auch erfahrene Jecken brauchen mal Pause vom Karneval, aber die Bereitschaft, in andere Rollen zu schlüpfen und normierte Pfade zu verlassen, ist schon ganz hilfreich, um sich in andere hineinzuversetzen und sie besser zu verstehen.

Auch der Rollenwechsel zur Drag Queen, zum Drag King oder ein Travestie-Gastspiel beim Christopher Street Day ist eine echte Herausforderung und vermittelt ein verändertes Lebensgefühl. Wer als Mann schon mal mit hochhackigen Pömps und Rock, mit verlängerten Wimpern und aufgeklebten Fingernägeln durch die Welt lief, wird wissen, was gemeint ist. Und Frauen, die beim Seminar von Diane Torr „Man for a Day" mitgemacht haben (vgl. Spiegel-Artikel vom 19.07.2012), erleben hautnah die emotionalen Veränderungen, welche der Wechsel in eine Männerrolle mit sich bringt.

„To walk in someone else's shoes" ist ein geflügeltes Wort im englischen Sprachraum, immer dann, wenn es um ungerechtfertigte Kritik geht. Es stammt vom platonischen Philosophen Atticus, der damit deutlich machen wollte, dass man jemand anderen erst wirklich kenne, wenn man_frau in dessen Schuhen gestanden habe und damit herumgegangen sei. Sich mit der Sicht- und Verhaltensweise anderer vertraut zu machen, war in der bisherigen Auseinandersetzung mit Queerphobie auch unser Bestreben. Jetzt ist es Zeit, die eigene, queere Position in den Blick zu nehmen und passende Strategien zur Überwindung queerphober Haltungen zu finden, die letztlich zu einem entspannten Miteinander führen sollen.

Ausblick auf den Umgang mit Queerphobie

Eigentlich klingt es doch ganz vernünftig, wenn Eltern in Baden-Württemberg fordern, dass ein Bildungsplan nicht gegen ihren Willen Kinder mit „abwegigen Identitätskonzepten" verwirren darf. Schließlich würden ja viele von uns auch intervenieren, wenn Scientology oder Rechtsextremen der Zugang zu Schulen gewährt würde. Nichts wäre verwerflicher, als wenn unser plurales, säkulares demokratisches und auf Menschen- und Grundrechten aufbauendes Staatssystem von „Spinnern" in Frage gestellt würde (vgl. Gauck-Zitat vor Bundesverfassungsgericht, das sich auf ausländerfeindliche Demonstranten_innen bezog).

Bezeichnender Weise las man dann auf einem der Schilder gegen die Bildungsreform in Baden-Württemberg "Nein zu Hetero-Phobie" (Artikel auf queer.de 01.03.2014), was wohl in Umkehrung des Anliegens von der Überwindung einer „Angst vor Homos" eine dadurch entstehende „Angst vor Heteros" an die Wand malen sollte. In Teil 1 hatten wir ja bereits überlegt, "Heterophobie" als Titel der Artikelserie zu wählen, weil er von Wissenschaftlern synonym für Queerphobie verwendet wird. „Hetero" heißt „anders, ungleich", „Heterophobie" steht für die „Angst vor Vielfalt" und ein „Nein" dazu würde ja letztlich „Vielfalt auch in Bezug auf sexuelle Identität und Orientierung fordern". Damit würden wir dem „Schildbürger" letztlich zustimmen können!

Doch intellektuelles Geplänkel mal beiseite. Haben Ängste und Irritationen, Vorurteile und Abwertungen nicht häufig damit zu tun, dass wir keinen direkten Zugang zu Menschen haben, die diesen Stereotypen widersprechen können? Wenn wir den Menschen hinter dem Vorurteil direkt kennenlernen und selbst erfüllende Prophezeiungen beiseite lassen, dann müssen wir meist zugestehen, dass er nur wenig mit der Schublade zu tun hat, in die man ihn regelmäßig steckt. So lange man_frau Schwule und Lesben nur von Ferne auf frivolen oder politisierenden CSD-Paraden gesehen hat, wo auch nur die auffälligsten den Weg in die Fernsehberichte schaffen, hat man_frau noch nicht die Bandbreite queeren Lebens verstanden. Sie würde im Aufklärungsunterricht in der Schule, bei intensiveren Gesprächen mit Bekannten der queer Community, ausführlichen Berichten oder Insider-Dokumentationen offensichtlich, wie wir sie beim Mediennetzwerk queerelations produzieren und empfehlen.

Ein prominentes Beispiel für ein derartig verzerrtes Bild über queere Personen war die Aussage vom damaligen CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, der Homosexuelle im März 2013 als eine „schrille Minderheit" bezeichnet hatte (vgl. Interview in der Welt am Sonntag vom 10.03.2013). Auch wenn davon auszugehen ist, dass in diesem Fall politisches Kalkül ausschlaggebend war, bestärkt die bewusste Diskriminierung Dobrindts diejenigen, die ein einseitiges Bild von queeren Personen haben. Politiker und Medien haben mit der Verbreitung populistischer stereotyper Aussagen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Mehrheitsmeinung.

Der griechische Philosoph Platon hat in der Antike in seinem berühmten Höhlengleichnis die Betrachtung der Welt als Betrachtung eines Schattenspiels beschrieben, das wir für die Wirklichkeit halten. Die Schatten sind dabei nur Abglanz dessen, was wirklich ist, und es braucht Erkenntnisinteresse und Mut, um die wahren Quellen äußerer Erscheinungen zu erkennen. Auch die Psychologie nutzt das Bild des Schattens als irrational angstmachendes Phänomen. Ängste sind dabei unsere eigenen Schatten. Wenn wir davor weglaufen werden sie größer, wenn wir uns ihnen stellen und auf sie zugehen, werden sie kleiner. Teil 4 dieser Serie zum Umgang mit Queerphobie hat das anschaulich beschrieben.

Wenn jetzt in manchen Ländern nicht nur Unsicherheiten und Aversionen gegenüber Minderheiten durch Desinformationen der Mehrheitsbevölkerung herrschen (Beispiel: ein evangelikaler Missionarsfeldzug in Uganda), sondern auch ein staatliches Verbot hinzukommt (Stichwort: russisches Anti-Propagandagesetz), entsteht eine katastrophale Situation für Minderheiten. Sie haben noch nicht einmal das Recht auf Informationsfreiheit und freie Meinungsäußerung, demokratische Grundrechte, die in Deutschland nur bei Agitation gegen die demokratische Verfassung eingeschränkt werden dürfen (z.B. Verbot von Nazisymbole und Hetzreden). Wer also in unserem Land die Auflösung des Minderheitenschutzes fordert, ist kurz davor, selbst in die Schranken des Rechtsstaates verwiesen zu werden.

Wir laden an dieser Stelle Sie als Leser_in ein, sich selbst folgende Fragen zu stellen: „Vor wem bzw. welcher Gruppe an Menschen habe ich die größten Vorbehalte? Wen kenne ich davon real? Welche Gefahr geht ernsthaft von ihm/ihr/ihnen aus?" Haben diese Aversionen reale, nachvollziehbare Gründe, dann sollte der Beziehungskonflikt - soweit wir tatsächlich in Kontakt stehen - öffentlich thematisiert werden. Geht es hingegen um Ängste vor etwas, das kaum nachvollziehbar und empirisch belegt ist, dann ist es Zeit für eine persönliche Beratung und Therapie.

So gewappnet, werden wir in Teil 6 auf mögliche Schritte im Umgang mit Queerphobie eingehen. Falls aus Ihrer Sicht noch andere Gründe für Queerphobie verantwortlich sind, bitte hier oder auf unserem queerelations-Themenblog formulieren. Aber auch Gegenargumente sind gerne gesehen, um eigene blinde Flecken aufzudecken.



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