„Sag mal, wie lange soll das jetzt eigentlich noch so weitergehen, dass du überhaupt nichts dazu verdienst? Es kann doch wohl nicht so schwer sein, irgendeinen Job zu finden!"
Schlechtes Timing. Ganz schlechtes Timing. Karin liegt neben mir im Bett, das Licht ist aus, es ist dunkel bis auf den Schein einer nervigen Straßenlaterne vor dem Fenster - und das Licht, das durch Pauls angelehnte Zimmertür leuchtet.
Karins vorpubertärem Letztgeborenen ist zwar kein Computerspiel zu pervers, zu grausam oder blutrünstig, aber allein im Dunkeln zu schlafen, das schafft er immer noch nicht.
„Du Schatz, was hältst du davon, wenn ich dich mal wieder ganz langsam von den Füßen bis zum Kopf massiere?" Als Appetizer hat das noch immer gewirkt.
Ich hatte die Worte schon auf den Lippen, hatte schon Luft geholt, doch dann kam Karins Frage, unerwartet, überraschend. Mein sonst stets aktivierter Rechtfertigungs-Schutzschild war bereits ausgeschaltet und ich mal wieder gekränkt und hilflos. Das mit der Massage hat sich dann wohl erledigt. Licht an, die Hände hinter den Kopf, beleidigter Blick zur Decke.
Was kann ich schon darauf erwidern? Habe ich bereits erwähnt, dass es manchmal besser ist, gewisse Dinge nicht laut auszusprechen? Ich versuche es mit „Was soll ich denn tun?" und „müssen wir denn unbedingt jetzt wieder damit anfangen?"
„Wann denn?" brummt sie gereizt. „Tagsüber komme ich ja nicht dazu. Ist doch ganz egal, was du arbeitest. Alles ist besser, als den ganzen Tag nur herum zu sitzen und die Wand anzustarren."
„Ich starre ja nicht nur die Wand an". Ich weiß, dass sie recht hat, was natürlich nicht bedeutet, dass ich ihr auch recht geben kann.
„Aber du wirst langsam depressiv, weil du völlig unterfordert bist, während ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Den ganzen Tag schufte ich in der Schule und wenn ich am Abend heimkomme, darf ich mich auch noch um den Haushalt und um Paul kümmern. Ich schaffe das bald nicht mehr und das Geld reicht sowieso hinten und vorne nicht."
Während Karin gerade aufzählt, wem wir noch Geld schulden, wer mal wieder ein Mahnverfahren gegen uns eingeleitet oder ein Inkassounternehmen beauftragt hat, beschließe ich, nicht mehr zuzuhören. Ich starre einfach weiter zur Decke, kneife die Lippen zusammen und warte, bis sich das Unwetter wieder verzogen hat. In der Schule hat das immer funktioniert, wenn ich aufgerufen oder bei irgend etwas ertappt wurde.
Egal, ob mich ein Lehrer beschimpft, die Klasse verspottet oder ein Mitschüler gehänselt hat, jede Demütigung geht irgendwann einmal wieder vorbei und zieht weiter. Vielleicht wird ihr langweilig und sie sucht sich ein anderes Opfer.
Karins Standpunkt ist nicht schlecht. Mein Trotz aber auch nicht.
Als Karin mich fragt, ob ich dazu nichts zu sagen habe, platzt es aus mir heraus: „Vielleicht sagst du mir nicht dauernd, was ich falsch mache, sondern einfach einmal, was ich tun soll."
„Rausgehen. Dich bewegen. Vom Zuhause Rumsitzen ändert sich nämlich nichts."
Ich spüre, wie ich verhärte. So ein Quatsch! „Was soll das heißen, rausgehen? Was soll sich dadurch ändern?"
„Du musst unter Menschen gehen. Irgendetwas tun, ganz egal was; und wenn du in einem Supermarkt Regale einräumst oder in einem Getränkemarkt Flaschen sortierst. Ich denke, alles ist besser, als nichts zu tun." Sie klingt nicht einmal vorwurfsvoll. Ihre Stimme ist nachdenklich, ganz sachlich. Ich möchte mir so gerne sagen, dass sie es gut mit mir meint, mir helfen will, dass sie mich liebt...
„Weißt Du, jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, sitzt du da in der Küche, immer in der Ecke auf dem selben Stuhl. Ich weiß schon vorher, dass du da sitzen wirst, noch bevor ich die Türe aufmache. Und weißt du was? Je öfter ich dich da sitzen sehe, desto mehr fange ich an, meine Achtung vor dir zu verlieren. Du weißt schon, meinen Respekt vor dir als als Mann."
Vielen Dank! Ja, es gibt wirklich Dinge, die spricht man besser nicht aus. Meinst sie vielleicht, ich fühle mich gerade besonders männlich, so richtig in meiner männlichen Kraft? Kein Job, kein Geld, nichts zu tun, was Kraft, Mut und Geschick erfordert, keine Schlacht zu schlagen, keine Burg zu bauen, keinen Drachen zu töten, keine Jungfrau zu retten; dazu verdonnert, Wäsche und Geschirr zu waschen, zu kochen und Staub zu saugen; und auf Kosten der eigenen Partnerin zu leben - wie Paul, nur eben in groß. Aber der ist immerhin mit Karin verwandt und genießt Welpenschutz.
Jeden Tag, wenn Paul von der Schule nach Hause kommt, sehe ich ganz genau in seinem Blick, was er über mich denkt: Du Opfer! Wann haust du endlich ab? Wir kommen ohne dich besser klar. Geh arbeiten oder verpiss dich.
Ich sage nichts, starre weiter hinauf an die Decke. Raufasertapete, schlampig tapeziert, müsste mal wieder gestrichen werden. Wie kann ich Karin klarmachen, dass es durchaus Dinge gibt, die noch schlimmer sind, als nichts zu tun. Hartz IV zu beantragen beispielsweise. Angeblich gibt es Millionen von Menschen, die es geschafft haben, die ersehnte Stütze zu bekommen. Ich allerdings bin bereits am Antrag gescheitert.
Nachdem ich mich eine dreiviertel Stunde durch diesen Wust von Seiten gewühlt habe, über Formulierungen gestolpert bin, die zweifelsfrei nichts mit der deutschen Sprache gemein haben und vor genannten Bedingungen, Anforderungen, Voraussetzungen und Notwendigkeiten zurückgeschreckt bin, habe ich schließlich dieses bürokratische Ungetüm erschöpft und unberührt in den Papierkorb geworfen. Ich gratuliere voller Hochachtung all den Menschen, denen es gelungen ist, den steinigen und gefahrvollen Weg durch den Hartz erfolgreich zu beschreiten - vom Antrag bis hin zur Bewilligung.
Ich wüsste wirklich zu gerne, wie sie das geschafft haben, zumal ich bereits nervöses Augenzucken und Hautausschlag bekomme, wenn ich ein gewöhnliches leeres Antragsformular nur in den Händen halte. Und sollte man es tatsächlich nach gefühlten sechs Stunden geschafft haben, so ein Formular nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen und einzureichen, dann gibt es noch keinen Grund, den Champagner zu öffnen.
„Um Ihren Antrag abschließend bearbeiten zu können, benötigen wir noch...". Mir ist es noch nie gelungen, einen Antragsempfänger gleich beim ersten Mal zufriedenzustellen.
Entweder bin ich zu dumm zum Lesen (was ich mir jedoch aus Gründen der Selbstachtung niemals eingestehen würde), oder es steckt ein perfides Zermürbungssystem dahinter, das nun nach vielen Jahren bei mir endlich Wirkung zeigt. Keine Anträge mehr! Nie wieder!
Und keine Bewerbungen mehr. Für dieses Leben habe ich die Formulierung „für Ihren weiteren beruflichen Lebensweg wünschen wir Ihnen viel Erfolg und alles Gute" oder „Ihre Bewerbungsunterlagen schicken wir Ihnen zu unserer Entlastung zurück" oft genug gehört. Kann ich Karin aber nicht sagen.
„Andere Menschen bewerben sich in ihrem Leben auch immer wieder und geben nicht auf."
Genau, andere Menschen. Andere Menschen gucken auch RTL II, sind Schalke-Fan oder ernähren sich vegan.
Ich habe in meinem Leben bereits sechshundertdrei schriftliche Absagen erhalten, mündliche Absagen sowie ignorierte Bewerbungen nicht mitgezählt; eine sechshundertvierte brauche ich nicht. Diese sechshundertdrei Schreiben liegen fein säuberlich abgeheftet in einem beschrifteten Ordner unter meinem Kleiderschrank.
All diese Dokumentationen meines beruflichen Scheiterns bewahre ich seit Jahren nicht etwa deswegen auf, weil ich zwanghaft korrekt bin. Nein, ich hebe sie auf zu MEINER Entlastung, für all die Menschen, die auf den Gedanken kommen (und ihn aussprechen), ich täte nichts, säße den ganzen Tag nur herum und würde die Wand anstarren.
Karin streichelt meine Wange und drückt meinen Kopf zu sich herüber. Ich blicke ihr in die Augen und versuche, ein noch mürrischeres Gesicht zu machen. Sie sieht mich lächelnd an.
„Tut mir leid", flüstert sie, „so wollte ich das nicht sagen. Ich habe das auch nicht so gemeint, aber ich mache mir halt Sorgen; um dich, um uns und auch um Paul. Wir können nicht schon wieder umziehen."
Entschuldigung angenommen, obwohl der letzte Satz eindeutig wieder zu den Dingen gehört, die nicht ausgesprochen werden sollten, zumindest dann nicht, wenn eine Entschuldigung nicht gleichzeitig wie ein Vorwurf klingen soll.
Ja, wir sind aus unserer letzten Wohnung geflogen. Nein, es war nicht allein meine Schuld. Und nein, es ist mir egal, dass Paul mir vermutlich seine Vertreibung aus einem ausgebauten Vierzig-Quadratmeter-Dachboden-Kinderzimmer niemals verzeihen wird; von den 45 Minuten Busfahrt zur Schule jeden Morgen gar nicht zu sprechen. In Wahrheit wurmt Paul ja bloß, dass seit unserem Umzug Schluss ist mit seinen legendären Partys.
Wochenenden voller ohrenbetäubender Musik (oder was diese Generation dafür hält), geplünderter Kühlschränke, verwüsteter Küchen und ein von wildfremden Menschen (gefühlt die halbe Schulklasse) dauerbesetztes Badezimmer - ich finde, unser erzwungener Wohnungswechsel hat durchaus auch positive Seiten. Und Mietschulden sowie eine böse Schufa hat schließlich heutzutage fast jeder.
Karin sieht das nicht ganz so lässig, schon wegen Paul. Daher sollte ich auf der Hut sein, was ich als nächstes sage. Bei Karin kann man sich schnell um Kopf und Kragen reden. Andererseits habe ich nicht viel zu verlieren.
„Man kann ja jetzt nicht behaupten, dass ich die letzten Monate überhaupt nichts beigetragen habe", sage ich wieder der Zimmerdecke.
„Immerhin habe ich mich fast komplett von meinem alten Leben getrennt, damit die wichtigsten Dinge bezahlen können." Ich könnte heulen! Allein mein geliebter Opel Ascona 16! Wir waren ein unschlagbares Team seit dreizehn Jahren.
Er war älter als ich - und scheinbar nicht mehr wert, als eine Stromnachzahlung, die Nebenkostenabrechnung plus Heizkosten für einen Winter. Zu meinem „alten Leben" gehörten außerdem noch alle fünfunddreißig Asterix-Bände, ein Alt- und Tenorsaxophon von Yamaha, meine komplette Gruselserie von H.G. Francis auf MC und eine Sony-Stereoanlage aus den 90er Jahren.
Vielleicht kein so großer Schatz wie der „Eine Ring" aus dem Schicksalsberg, aber mir haben diese Sachen durchaus etwas bedeutet - was Karin natürlich nicht verstehen kann (Originalzitat: „Sei froh, dass du den alten Plunder los geworden bist."). Wie auch? Ihre ganzen Schätze, die kistenweise den Keller belegen, bestehen ausschließlich aus Pauls Errungenschaften, gesammelt über zwölf Jahre.
Ist es denn zu viel verlangt, ein wenig Anteilnahme, Verständnis und Dankbarkeit für mein großes Opfer zu erwarten, das ich für unser gemeinsames Leben zu erbringen bereit war?
„Ich weiß das Opfer sehr wohl zu schätzen, das du für unser gemeinsames Leben erbracht hast", kommt es von der anderen Seite des Bettes.
„Aber du hast nur ein altes Leben und das ist jetzt weg und das Geld auch. Was kommt als nächstes? Versteigerst Du eine Niere?"
„Schon gegoogelt. Ist derzeit irgendwas zwischen fünfzigtausend und achtzigtausend Euro wert."
„Du hast sie ja nicht mehr alle!"
Gut, dann eben ohne Humor. „Können Deine Eltern nicht noch mal was überweisen?"
„Tun sie bereits. Sie geben uns vierhundert Euro, obwohl sie selbst nichts haben. Was ist mit deiner Mutter?"
„Die ist seit gestern irgendwo an der türkischen Riviera. Für drei Wochen."
Karin fährt hoch und starrt mich fassungslos an.
„Das ist jetzt aber ein Scherz", entfährt es ihr.
Ich schüttel den Kopf. „Nein, all inclusive."
Jetzt wird Karin richtig böse - zum Glück nicht auf mich. „Hast du ihr nicht gesagt, dass uns gerade das Wasser bis zum Hals steht?"
Ich nicke. „Klar habe ich das."
„Und was hat sie dazu gesagt?"
„Was denkst Du denn?" Seufze ich und drehe mich wieder zur Zimmerdecke.
„Sie hat gesagt, dass sie sehr traurig ist, dass ich es immer noch nicht geschafft habe, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hat gesagt, dass sie nicht versteht, warum ich nie Geld habe, obwohl ich gesund und intelligent bin und studiert habe.
Sie hat gesagt, dass sie sich fragt, was sie falsch gemacht haben könnte, es aber nicht weiß. Sie hat gesagt, dass sie niemand in ihrem Bekanntenkreis kennt, der sich nicht einmal eine Zugfahrt leisten kann, um die eigene Mutter zu besuchen.
Sie hat gesagt, dass ich mir an meinem Bruder ein Beispiel nehmen soll, der immerhin zweimal in der Woche anruft. Und sie hat gesagt, dass sie mir alles Gute und viel Erfolg für meine berufliche Zukunft wünscht, jetzt aber auflegen muss, weil sie noch ganz viel zu packen hat und außerdem früh ins Bett muss, weil sie um halb vier aufsteht, damit sie um halb sechs am Flughafen ist, um ihren Flieger nach Antalya um halb acht..."
„Stopp, stopp, stopp!" Stöhnt Karin auf. „Wieso merkst du dir das alles?"
„Habe ich nicht. Die Uhrzeiten sind frei erfunden."
Endlich klappt es, Karin muss lachen. Ich bin erleichtert - für ungefähr zwanzig Sekunden.
„Okay, von Deiner Mutter ist mal wieder nichts zu erwarten. Bei ebay kannst du auch nichts mehr verkaufen. Dann bleibt wohl nur mein Vorschlag von vorhin, nämlich Flaschen sortieren und Regale einräumen."
Womit sich der Kreis schließt und Karins messerscharfe Logik mich erneut in Rechtfertigungsnot und somit um meinen abendlichen Seelenfrieden bringen.
Was klingt besser? „Ich kann nicht"? Oder „Ich will nicht"? Oder „Ich weiß nicht"?
In unserer leistungsorientierten Fleiß- und Beschäftigungsgesellschaft ist es einfach nicht vermittelbar, dass ein paar hundert Euro zu wenig Schmerzensgeld sind, um sich tagtäglich mit sinnentleerten, überflüssigen und unterfordernden Tätigkeiten zu prostituieren - zumal, wenn die finanzielle Entschädigung ungefühlt verpufft für Nebensächlichkeiten wie Krankenkasse, Wohnungsmiete oder die Kraftfahrzeugversicherung. Aber das gehört ebenfalls zu den Dingen, die man besser nicht laut ausspricht.
Wie ertragen das nur all die anderen? Die Millionen und Abermillionen von Menschen, die ihr ganzes Leben auf diese Weise verbringen und das Glück haben, nie darüber nachzudenken, weil es ihnen gar nicht auffällt.
Die unzufrieden sind, ohne zu wissen, warum; und dank Fernsehen, Alkohol und allen nur erdenklichen Formen der Ablenkung auch gar nicht dazu kommen, sich darüber Gedanken zu machen. Vielleicht liegt es ja doch an mir. Vielleicht haben meine Mutter, Karin und die übrigen vierzig Millionen deutsche Bundesbürger Recht.
Vielleicht muss ich einfach nur anfangen, jeden Tag eine Flasche Grappa zu trinken, mich durch das Fernsehprogramm zu zappen und über all die trivialen Dinge aufzuregen, die uns die BILD-Zeitung Tag für Tag ans Herz legt.
Während ich diesen revolutionären, aber höchst unkonstruktiven und vermutlich von Karin kaum akzeptierten Gedanken von links nach rechts und von oben nach unten wälze, kommt Gott sei Dank die Rettung aus dem Nebenzimmer - unverhofft und unerwartet.
„Könnt ihr endlich mal leise sein, ich versuche hier nämlich zu schlafen. Morgen ist schließlich Schule."
Wo er recht hat, hat er recht. Und ich war Paul noch nie so dankbar für einen seiner frechen, vorlauten und unverschämten Bemerkungen, wie in diesem Augenblick.
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