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Schweizer Impressionen: Warum rennen hier alle so?

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"Warum rennen hier alle so?" Yona, denke ich mir, muss sich wie auf einem andern Planeten fühlen. Die einzigen, die ich in Kuba habe rennen sehen, waren Diebe auf der Flucht vor der Polizei.

Nicht, dass ich auf ihre Frage eine Antwort gehabt hätte, schließlich verstehe ich auch nicht, was mich bereits im Flughafengebäude in Eilschritt verfallen lässt, und warum, kaum habe ich heimischen Boden betreten, ich bereits leicht gestresst auf meine Umwelt reagiere. Mir fällt das selten einmal auf; ich bin hier zu Hause.

"Me siento como un ventilador". Yona sitzt auf dem Rücksitz und dreht und wendet ihren Kopf in alle Richtungen und findet alles "lindo", also hübsch und niedlich und schön, im besonderen alle modernen Gebäude, weil es solche in Kuba kaum gibt.
Den wunderschönen, aus der Kolonialzeit stammenden, Bauten in Havannas Altstadt hat Yona nie was abgewinnen können. Für sie strahlen die zusammenbrechenden Häuser von Habana Vieja nicht in erster Linie den traurigen Charme aus, den der Tourist wahrnehmen mag; für sie bedeutet in Alt-Havanna zu wohnen, dass man hier beim nächsten Hurrikan um einiges gefährdeter sein wird als in den neueren Siedlungen am Stadtrand.

Wir machen Ausflüge in die nähere Umgebung. Chur, Bad Ragaz, Oberschan, Buchs. Auf dem Werdenbergerseeli schwimmen ein paar Enten ganz nah dem Ufer entlang. In Kuba wäre dies undenkbar, sagt Yona. Und warum? Die wären da schon längst gegessen worden.

"Da ist jemand an der Tür." Ich reagiere nicht und so stellt sie die Dusche ab und sagt, "jetzt hör doch". Aus der oberen Wohnung ist ein Klopfen zu vernehmen, da schlägt jemand einen Nagel ein. "En Suiza", erläutere ich, "da klopft man nicht an die Tür, en Suiza, da klingelt man."

Dieses Jahr liegt der Schnee auch im Flachland zentimeterdick auf den Ästen der Bäume. "Mira que lindo". Yona streckt die Zunge raus und leckt den Schnee vom Ast. Und dann versucht sie mit weit aufgesperrtem Mund Flocken zu fangen. Mir gefällt, an meine Kindheit erinnert zu werden. Und Yona freut sich, mit den Sinnen zu spüren, was sie nur aus dem Fernseher kennt. Die Leute sind alle so ernst hier, sagt sie anderntags. Vermutlich haben sie Angst, ihnen würden, bei dieser Kälte!, beim Lachen die Zähne aus dem Mund fallen.

Spontane Begegnungen, wie in Kuba, die kannst du hier vergessen, sage ich und erinnere mich an eine holländische Touristin, die gemeint hat, der Unterschied zwischen Amsterdam und Havanna liege darin, dass man an Bushaltestellen in Amsterdam nicht von Wildfremden angequatscht werde, die dann munter drauflos parlieren und einen nach ein paar Minuten so mir nichts, dir nichts, und nicht etwa, weil der Bus kommt, einfach stehen lassen und ihres Weges gehen.

Nein, mit dieser Art von Ansprache muss man in der Schweiz nicht rechnen, außer von Besoffenen und anderen Zugedröhnten. Auch wenn vor nicht allzu langer Zeit ein Schweizer Nachrichtenmagazin behauptet hat, dass wir jetzt alle wahnsinnig multikulturell und überhaupt viel lockerer geworden sind, so wollen wir doch nach wie vor am allerliebsten alleine im Zugabteil sitzen.

Aus: Hans Durrer: Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur. Rüegger Verlag, Zürich/Chur 2013.

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