Ein Tätowier Studio in Zürich.
Eine junge Frau steigt von der Liege herunter und zeigt stolz ihren Oberarm, auf dem ein frischgestochenes chinesisches Schriftzeichen prangt. »Ich bin im Jahr des Ochsen geboren«, erklärt sie, »und das ist das Zeichen des Ochsen.« An der Wand ist ein Poster zu sehen, auf dem weitere Zeichen und ihre Bedeutung stehen: Hund, Drache, Pferd, Affe. Ich erkundige mich beim Betreiber des Studios, woher er das Poster habe.
»Weiß nicht mehr«, antwortet er, während er sein Besteck in Ordnung bringt, »mal irgendwo im Internet bestellt.« Tatsächlich findet sich in einer Ecke des Plakats eine Webadresse: asiazeichen.de. Ob chinesische Schriftzeichen häufig verlangt würden, frage ich. »Ja, ich mache pro Woche sicher vier, fünf.« Und ob er auch ganze Sätze anbiete? »Klar, gibt alles.« Er zeigt auf einen Ordner, der auf dem Tischchen vor dem Sofa liegt, auf dem die wartende Freundin der jungen Frau etwas in ihr iPhone tippt.
Der Ordner präsentiert die üblichen Sujets: Pin-up-Girls, Tribal-Muster und eine Unzahl von chinesischen Schriftzeichen, allein und in Kombination; jeweils mit ihrer Bedeutung versehen: »Du und ich in alle Ewigkeit«, »Glück in allen Unternehmungen«, »Träume sind Wirklichkeit«. Auch hier ist jeweils die Webadresse angegeben. Ich frage den Tätowierer, woher er wisse, dass all diese Zeichen genau dies bedeuten würden. Er schaut mich etwas unbestimmt an; als hätte ich gefragt, ob er steril arbeite. »Steht doch da?«, antwortet er.
Besuche in zwei weiteren Studios fördern zutage: 1. Die Tätowierkünstler nehmen ebenso arglos wie ihre Kunden die Bedeutungen dieser Schriftzeichen entgegen. 2. Der Lieferant ist überall asiazeichen.de.
Wieder im Büro rufe ich die Website auf. Es gibt Aufkleber, Aufnäher, Plakate, Postkarten, alles mögliche. Fast überall sind die Übersetzungen auf Deutsch oder Englisch angegeben: Clever, Magnificent, Strength, Respect; Pferd, Hahn, Schlange; Liebe ist Schmerz, Liebe bedeutet Treue. Ich schreibe dem Betreiber ein Mail und stelle die gleiche Frage: Bedeuten diese Zeichen wirklich, was da steht?
Dieter, der Mann hinter asiazeichen.de, ist etwas knapp: Logisch, schreibt er in seiner Antwort, was die Frage solle. Woher er es denn so genau wisse, schreibe ich zurück; Dieter sei ja kein chinesischer Name. Nun wird Dieter ungehalten, er habe die Übersetzungen von einem Chinesen, der habe sie ihm auf Englisch gegeben, und er habe dann alles auf Deutsch übersetzt. Und wenn ich nichts kaufen wolle, solle ich bitte nicht weiter seine Zeit stehlen. Ich stehle ihm aber noch etwas davon und bitte ihn um den Kontakt. Er antwortet ein letztes Mal, bloß mit einer Mailadresse: hang_liu@gmail.com.
Liu Hang antwortet drei Wochen lang nicht auf meine Nachricht. Dann schreibt er in ziemlich gutem Englisch: Ja, er sei der Übersetzer der Schriftzeichen, und wenn ich wissen wolle, was sie wirklich bedeuteten, müsse ich schon zu ihm nach China kommen. Er gibt mir eine genaue Wegbeschreibung.
Ich packe meinen Koffer und fliege nach Schanghai, nehme den Bus nach Wuhan, den Zug nach Yichang, die Fähre nach Chongqing, wieder den Bus nach Chengdu und dort einen anderen Bus in die Kleinstadt Dujangyan, wo Liu lebt. Der letzte Teil der Reise ist abenteuerlich; die Straßen sind ebenso schlecht wie die Fahrweise des Chauffeurs und der Zustand seines rostigen Gefährts. Ich halte mich panisch an der Lehne des Vordersitzes fest. Ein Mann zeigt auf mich und sagt etwas. Die anderen Passagiere lachen. Er sagt nochmals etwas, und sie lachen noch mehr.
Endlich kommen wir in Dujangyan an. Ich steige aus. Mein Tropenhemd klebt an meinem Körper. Von der Krempe meines Tropenhelms tropft der Schweiß. Der Mann aus dem Bus macht nochmals eine Bemerkung, als er und die anderen Fahrgäste an mir vorbeigehen, und zeigt dabei auf das Schmetterlingsnetz in meiner Hand. Wieder lachen alle.
»Thomas!«, ruft da jemand. Es ist Liu, der mit offenen Armen auf mich zukommt. Er führt mich in sein bescheidenes Heim, wo ich von seiner hübschen Frau freundlich begrüßt werde. Ob ich einen Wunsch hätte, fragt Liu. Ich wünsche mir eine Teezeremonie, sage ich. Mein Gastgeber und seine Gemahlin tauschen einen Blick. Gern, sagt er, aber das dauere vier Stunden. Zehn, sage ich. Sechs, sagt er. Wir einigen uns auf acht.
Am nächsten Morgen -- ich habe mein Tropenhemd gegen meine Schriftstellerkleidung getauscht; schwarze Hose, weißes Hemd, und ganz oben, über einer hohen Stirn, eine Krone aus Nazigold -- sitze ich Liu gegenüber. Er reicht mir eine Opiumpfeife. Ich inhaliere tief und gebe sie ihm zurück. Dann breite ich einige Papiere aus; die Sujets von asiazeichen.de, und frage ihn: »Liu, diese Schriftzeichen ... was bedeuten sie wirklich?«
Liu grinst, zieht an der Pfeife, grinst, weist auf »Respect« und sagt: »It means impotence.« Dann kichert er und hört nicht mehr auf damit: »Impotence, hihihi! Not respect! Impotence!« Als nächstes zeigt er auf »Clever«, wieder und wieder, nun schreit er vor Lachen und bringt dazwischen nur mühsam heraus: »This means: fucked in your bottom! Very clever! Hahaha!«
Wir verbringen vier angenehme Jahre, in deren Verlauf ich schwer opiumsüchtig werde und mit Liu eine Vielzahl von vulgären Schriftzeichen mit harmlosen, positiven Botschaften versehe: »Du und ich stehen im Licht«, »Gute Gedanken machen reich« und so weiter. Wir amüsieren uns, denn die dazugehörigen Zeichen heißen natürlich etwas ganz anderes. Mir fallen mehrere Zähne aus, Liu hat schon lang keine mehr. Seine Frau serviert ununterbrochen Tee. Irgendwann frage ich, was für Tee es sei, der schmecke so gut. Opiumtee, lächelt sie und verschwindet lautlos wieder.
Eines Tages sagt Liu, ich müsse zurück nach Europa. Die neuen Schriftzeichen seien jetzt fertig und müssten verkauft werden. Er reicht mir einen Packen mit den Papieren, die wir in all der Zeit vollgeschrieben haben. Dieter warte schon darauf. Und habe keine Ahnung, hihihi.
Ich reise nach Hause. Der Entzug ist brutal. Ich schwitze meine Tropenuniform voll, die ich nun wieder trage. Das Schmetterlingsnetz benutze ich als Krückstock. Die Leute lachen mich aus. Ich schleppe mich zu Dieter und überreiche ihm die Papiere. Er bezahlt mich fürstlich. Ich sende Liu wie ausgemacht die Hälfte des Geldes. In der Schalterhalle der Bank steht eine junge Frau vor mir. Auf ihrem Arm steht, ich kann's jetzt lesen, »Dumme Sau«. Ich lache laut auf. Sie dreht sich um und fragt warum. Ich sage es ihr. Sie klebt mir eine.
Am 25. November 2013 erschien bei 20 Minuten ein Bericht über einen brasilianischen Tätowierer, dessen Schriftzeichen nicht ganz das bedeuteten, was seine Kunden ihm zu tätowieren aufgetragen hatten. Ich hoffe, er ließ sich nicht von meinem Text inspirieren.
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Eine junge Frau steigt von der Liege herunter und zeigt stolz ihren Oberarm, auf dem ein frischgestochenes chinesisches Schriftzeichen prangt. »Ich bin im Jahr des Ochsen geboren«, erklärt sie, »und das ist das Zeichen des Ochsen.« An der Wand ist ein Poster zu sehen, auf dem weitere Zeichen und ihre Bedeutung stehen: Hund, Drache, Pferd, Affe. Ich erkundige mich beim Betreiber des Studios, woher er das Poster habe.
»Weiß nicht mehr«, antwortet er, während er sein Besteck in Ordnung bringt, »mal irgendwo im Internet bestellt.« Tatsächlich findet sich in einer Ecke des Plakats eine Webadresse: asiazeichen.de. Ob chinesische Schriftzeichen häufig verlangt würden, frage ich. »Ja, ich mache pro Woche sicher vier, fünf.« Und ob er auch ganze Sätze anbiete? »Klar, gibt alles.« Er zeigt auf einen Ordner, der auf dem Tischchen vor dem Sofa liegt, auf dem die wartende Freundin der jungen Frau etwas in ihr iPhone tippt.
Der Ordner präsentiert die üblichen Sujets: Pin-up-Girls, Tribal-Muster und eine Unzahl von chinesischen Schriftzeichen, allein und in Kombination; jeweils mit ihrer Bedeutung versehen: »Du und ich in alle Ewigkeit«, »Glück in allen Unternehmungen«, »Träume sind Wirklichkeit«. Auch hier ist jeweils die Webadresse angegeben. Ich frage den Tätowierer, woher er wisse, dass all diese Zeichen genau dies bedeuten würden. Er schaut mich etwas unbestimmt an; als hätte ich gefragt, ob er steril arbeite. »Steht doch da?«, antwortet er.
Besuche in zwei weiteren Studios fördern zutage: 1. Die Tätowierkünstler nehmen ebenso arglos wie ihre Kunden die Bedeutungen dieser Schriftzeichen entgegen. 2. Der Lieferant ist überall asiazeichen.de.
Wieder im Büro rufe ich die Website auf. Es gibt Aufkleber, Aufnäher, Plakate, Postkarten, alles mögliche. Fast überall sind die Übersetzungen auf Deutsch oder Englisch angegeben: Clever, Magnificent, Strength, Respect; Pferd, Hahn, Schlange; Liebe ist Schmerz, Liebe bedeutet Treue. Ich schreibe dem Betreiber ein Mail und stelle die gleiche Frage: Bedeuten diese Zeichen wirklich, was da steht?
Dieter, der Mann hinter asiazeichen.de, ist etwas knapp: Logisch, schreibt er in seiner Antwort, was die Frage solle. Woher er es denn so genau wisse, schreibe ich zurück; Dieter sei ja kein chinesischer Name. Nun wird Dieter ungehalten, er habe die Übersetzungen von einem Chinesen, der habe sie ihm auf Englisch gegeben, und er habe dann alles auf Deutsch übersetzt. Und wenn ich nichts kaufen wolle, solle ich bitte nicht weiter seine Zeit stehlen. Ich stehle ihm aber noch etwas davon und bitte ihn um den Kontakt. Er antwortet ein letztes Mal, bloß mit einer Mailadresse: hang_liu@gmail.com.
Liu Hang antwortet drei Wochen lang nicht auf meine Nachricht. Dann schreibt er in ziemlich gutem Englisch: Ja, er sei der Übersetzer der Schriftzeichen, und wenn ich wissen wolle, was sie wirklich bedeuteten, müsse ich schon zu ihm nach China kommen. Er gibt mir eine genaue Wegbeschreibung.
Ich packe meinen Koffer und fliege nach Schanghai, nehme den Bus nach Wuhan, den Zug nach Yichang, die Fähre nach Chongqing, wieder den Bus nach Chengdu und dort einen anderen Bus in die Kleinstadt Dujangyan, wo Liu lebt. Der letzte Teil der Reise ist abenteuerlich; die Straßen sind ebenso schlecht wie die Fahrweise des Chauffeurs und der Zustand seines rostigen Gefährts. Ich halte mich panisch an der Lehne des Vordersitzes fest. Ein Mann zeigt auf mich und sagt etwas. Die anderen Passagiere lachen. Er sagt nochmals etwas, und sie lachen noch mehr.
Endlich kommen wir in Dujangyan an. Ich steige aus. Mein Tropenhemd klebt an meinem Körper. Von der Krempe meines Tropenhelms tropft der Schweiß. Der Mann aus dem Bus macht nochmals eine Bemerkung, als er und die anderen Fahrgäste an mir vorbeigehen, und zeigt dabei auf das Schmetterlingsnetz in meiner Hand. Wieder lachen alle.
»Thomas!«, ruft da jemand. Es ist Liu, der mit offenen Armen auf mich zukommt. Er führt mich in sein bescheidenes Heim, wo ich von seiner hübschen Frau freundlich begrüßt werde. Ob ich einen Wunsch hätte, fragt Liu. Ich wünsche mir eine Teezeremonie, sage ich. Mein Gastgeber und seine Gemahlin tauschen einen Blick. Gern, sagt er, aber das dauere vier Stunden. Zehn, sage ich. Sechs, sagt er. Wir einigen uns auf acht.
Am nächsten Morgen -- ich habe mein Tropenhemd gegen meine Schriftstellerkleidung getauscht; schwarze Hose, weißes Hemd, und ganz oben, über einer hohen Stirn, eine Krone aus Nazigold -- sitze ich Liu gegenüber. Er reicht mir eine Opiumpfeife. Ich inhaliere tief und gebe sie ihm zurück. Dann breite ich einige Papiere aus; die Sujets von asiazeichen.de, und frage ihn: »Liu, diese Schriftzeichen ... was bedeuten sie wirklich?«
Liu grinst, zieht an der Pfeife, grinst, weist auf »Respect« und sagt: »It means impotence.« Dann kichert er und hört nicht mehr auf damit: »Impotence, hihihi! Not respect! Impotence!« Als nächstes zeigt er auf »Clever«, wieder und wieder, nun schreit er vor Lachen und bringt dazwischen nur mühsam heraus: »This means: fucked in your bottom! Very clever! Hahaha!«
Wir verbringen vier angenehme Jahre, in deren Verlauf ich schwer opiumsüchtig werde und mit Liu eine Vielzahl von vulgären Schriftzeichen mit harmlosen, positiven Botschaften versehe: »Du und ich stehen im Licht«, »Gute Gedanken machen reich« und so weiter. Wir amüsieren uns, denn die dazugehörigen Zeichen heißen natürlich etwas ganz anderes. Mir fallen mehrere Zähne aus, Liu hat schon lang keine mehr. Seine Frau serviert ununterbrochen Tee. Irgendwann frage ich, was für Tee es sei, der schmecke so gut. Opiumtee, lächelt sie und verschwindet lautlos wieder.
Eines Tages sagt Liu, ich müsse zurück nach Europa. Die neuen Schriftzeichen seien jetzt fertig und müssten verkauft werden. Er reicht mir einen Packen mit den Papieren, die wir in all der Zeit vollgeschrieben haben. Dieter warte schon darauf. Und habe keine Ahnung, hihihi.
Ich reise nach Hause. Der Entzug ist brutal. Ich schwitze meine Tropenuniform voll, die ich nun wieder trage. Das Schmetterlingsnetz benutze ich als Krückstock. Die Leute lachen mich aus. Ich schleppe mich zu Dieter und überreiche ihm die Papiere. Er bezahlt mich fürstlich. Ich sende Liu wie ausgemacht die Hälfte des Geldes. In der Schalterhalle der Bank steht eine junge Frau vor mir. Auf ihrem Arm steht, ich kann's jetzt lesen, »Dumme Sau«. Ich lache laut auf. Sie dreht sich um und fragt warum. Ich sage es ihr. Sie klebt mir eine.
Am 25. November 2013 erschien bei 20 Minuten ein Bericht über einen brasilianischen Tätowierer, dessen Schriftzeichen nicht ganz das bedeuteten, was seine Kunden ihm zu tätowieren aufgetragen hatten. Ich hoffe, er ließ sich nicht von meinem Text inspirieren.
