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Schweiz: Die grundsätzliche Frage unserer Identität

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Das Abstimmungsergebnis vom 9. Februaren der Schweiz wirft die jeden Menschen sein ganzes Leben bewegende Frage auf, wie wir in unserer globalisierten Welt unsere eigene Identität definieren und erleben. Identität heisst, Gemeinsamkeiten bewusst zu machen und uns damit als eigenständige Gemeinschaft abzugrenzen. Gerade in unserer Welt, die durch so raschen Wandel geprägt wird, ist das Bedürfnis, in einer Gesellschaft der Gleichgesinnten verankert zu sein, besonders ausgeprägt. Aus diesem Grunde ist das Abstimmungsergebnis nicht überraschend und auch nicht, dass in den Gegenden, die dem Druck der permanenten Veränderung weniger ausgesetzt sind, die Angst, die schweizerische Identität zu verlieren, überdurchschnittlich gross war.

Die Frage ist jedoch, ob wir in unserer heutigen Welt langfristig friedlich zusammenleben können, wenn wir fortfahren, unsere Identität eindimensional zu definieren - sei es gleiche Nationalität oder auch wie vielerorts wieder zunehmend gleiche Religion, gleicher Volksstamm , gleiche Ideologie . Wir müssen uns nur in der Welt umsehen: Die unsäglichen menschlichen Dramen , die sich in der Geschichte ereignet haben und heute noch abspielen (siehe Syrien), haben meistens mit der Radikalisierung von einseitigen Identitäten zu tun, aus denen dann Ausgrenzung , Hass und letzten Endes Vernichtung des andersartigen Gegners abgeleitet werden.

Durch unsere Tradition des bundesstaatlichen und gemeinschaftlichen Zusammenlebens seit Jahrhunderten sind wir sicher gegen Auswüchse gefeit. Wir können als zivilisierte aufgeklärte Gemeinschaft extremen Entwicklungen entgegenwirken indem wir multikulturelle Toleranz praktizieren. Dies ist aber nicht ausreichend, da wir so einem dauernden Konflikt zwischen unserer Eigenständigkeit und dem Anderssein ausgesetzt sind und Populisten oft diese Konfliktsituation für ihre Zwecke ausnützen. Wir müssen verstehen, dass es heute nicht mehr darum geht, Identitäten gegeneinander auszuspielen, sondern darum, verschiedene Identitäten miteinander zu kombinieren und in Einklang zu bringen.

Ich persönlich bin in Deutschland aufgewachsen und habe dort noch Kriegs- und Nachkriegszeit intensiv erlebt. Ich verleugne meine deutsche Identität nicht. Von meinen acht Urgrosseltern waren sieben gebürtige Schweizer (wenige Schweizer haben wahrscheinlich so viel Schweizer Blut in ihren Adern), ich wohne seit über 50 Jahren in der Schweiz und dementsprechend fühle ich mich als Schweizer. Oft werde ich gefragt, warum ich mich denn nicht einbürgern liess. Ich glaube, dass es eben nicht auf die Farbe des Passes ankommt, sondern auf die Integration, beziehungsweise die gelebte schweizerische Identität.

Heute finde ich auch, dass wir innerhalb Europas unsere Nationalitäten nicht mehr austauschen sollten. Ich schätze das gemeinsame europäische Kulturerbe und die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und letzten Endes auch politischen Union und bin mit Begeisterung Europäer - dies vor allem auch, weil ich noch selbst miterlebt habe, wie Krieg und Hass, das heisst fehlgeleitete einseitige nationalistische Identitäten, Zerstörung und Tod brachten. Ich bin aber auch Weltenbürger, weil ich weiss, dass wir in in einer Welt leben, in der wir letzten Endes unser Ueberleben, oder zumindest die Existenz der nächsten Generation, nur durch gemeinsames Handeln sichern können.

Umweltverschmutzung, Terrorismus und viele andere globale Herausforderungen kennen keine Grenzen. Wir tragen alle eine globale Verantwortung und brauchen hierzu eine globale Identität. Wir müssen lernen, verschiedene Ebenen des Identitätsbewusstseins in uns zu integrieren. Es geht nicht um entweder oder, sondern um sowohl als auch. Natürlich gibt es Konfliktsituationen zwischen den verschiedenen Ebenen lokaler, nationaler, regionaler und globaler Identität . Diese lassen sich nur dadurch lösen, dass wir die verschiedenen Identitäten so gewichten, dass wir immer dem übergeordneten Gemeinwohl dienen.

Um dieses Prinzip rückwirkend auf den 9. Februar anzuwenden, lautete dann die Frage nicht, was wir verteidigen wollen, sondern welches Abstimmungsergebnis langfristig am meisten zum schweizerischen und auch europäischen Gemeinwohl beigetragen hätte.

In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht verkennen, dass in der Zukunft nicht mehr Kapital, sondern Talente den Erfolg einer Gesellschaft prägen. Der Talentismus ersetzt den Kapitalismus , wie ich das in Davos ausgedrückt habe. Herausragende Talente sind jedoch nicht nur durch überragende Professionalität geprägt, sondern auch dadurch, dass sie durch Ausbildung und Erfahrung gelernt haben, die verschiedenen heute notwendigen Identitäten in sich zu vereinen. Diese Talente haben im allgemeinen eine starke Fähigkeit, sich rasch zu assimilieren. Sie haben aber auch eine ausgesprochene Aversion gegen alles, was mit Abschottung zu tun hat.

Daher gilt meine Sorge weniger den wahrscheinlichen zukünftigen Beschränkungen bei der Einstellung von Talenten als vielmehr der atmosphärischen Attraktivität einer Schweiz, die als fremdenfeindlich empfunden wird. Gemäss unseren demokratischen Prinzipien kann man das Abstimmungsergebnis nicht in Frage stellen, aber man kann hoffen, dass es zu einem grundsätzlichen Nachdenken über Identität in der modernen Realität führt.

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