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Überleben im Tschad: Hand in Hand gegen die drittschwerste Armut der Welt

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world vision tschad

John Scicchitano ist seit 2012 Leiter von World Vision Tschad. Dass der US-Amerikaner in Afrika lebt, hat auch persönliche Gründe: Johns Frau stammt aus N'Djamena, der Hauptstadt des Tschads.

Arabische Frauen in langen Gewändern. Schwarzafrikanerinnen in gelb-rot-blauen Mustermixkleidern. Flüsse, die trockenes Land wie Lebensadern durchziehen. Hunderte verschiedener Sprach- und Volksgruppen - seit 25 Jahren in friedlichem Miteinander. Der Tschad ist ein reiches Land: reich an Menschen, Bodenschätzen, landwirtschaftlichen Möglichkeiten.

Dennoch zählt er zu den ärmsten Ländern der Welt. Im Human Development Index, der den Entwicklungsstand eines Landes abbildet, rangiert der Tschad auf Platz 184 von 186. In kaum einem anderen Land sterben so viele Kinder und Mütter, gibt es so viele Analphabeten. Dass das nicht so bleibt, ist das gemeinsame Ziel vieler engagierter Frauen, motivierter Dorflehrer und natürlich auch von World Vision. Über Herausforderungen und Fortschritte der Zusammenarbeit berichtet John Scicchitano, Leiter des World Vision Büros Tschad, im Interview.

John, wie sieht Armut im Tschad aus, ganz konkret?

John Scicchitano: Wenn man Armut allein unter ökonomischen Aspekten betrachtet - zum Beispiel das Durchschnittseinkommen oder das Bruttonationalprodukt - dann gehört der Tschad nicht zu den ärmsten Ländern der Welt. Es gibt aber eine hohe Geburtenrate und eine immens hohe Sterblichkeitsrate. Frauen bekommen im Durchschnitt sieben Kinder. Eines von fünf Kindern stirbt, bevor es fünf Jahre alt wird. Unter- und Mangelernährung sind ein großes Problem. Und nur ein Viertel aller Menschen können lesen.

Die Kindersterblichkeit steht im Mittelpunkt unserer Strategie in der Entwicklungszusammenarbeit. Sie hängt wiederum sehr stark mit Müttersterblichkeit zusammen. Im Tschad stirbt eine von 50 Frauen bei einer Geburt - das Land hat somit die höchste Müttersterblichkeit weltweit. Wenn eine Mutter stirbt, ist das Risiko zehnmal höher, dass auch das Kind stirbt. Wir setzen also bei den Müttern an. Das große Ziel ist, dass die Sterblichkeit sinkt und die Geburtenrate auch. Wenn wir das erreichen, bedeutet das, dass Entwicklungszusammenarbeit greift: Die Menschen können mehr von ihrem Einkommen in die Gesundheit ihrer Familien investieren. Doch so weit sind wir im Tschad noch lange nicht.

Wie sehen die Maßnahmen auf dem Weg dorthin aus?

J.S.: Glücklicherweise haben wir in Ruanda, im Senegal und in Sambia sehr gute Erfahrungen gemacht, wir können auf erprobte Maßnahmen zurückgreifen. Unser Ansatz heißt 7/11 - er umfasst sieben Maßnahmen für Mütter, elf für Kinder, die wirkungsvoll und kosteneffizient zugleich sind. Dazu gehören zum Beispiel einfache Hygieneregeln wie das Händewaschen, aber auch Impfungen gegen Krankheiten, Moskitonetze zur Malariavorbeugung, das Einnehmen von Zusatznahrung.

In Mbala zum Beispiel, einem unsere Projektgebiete mit mehr als 20 Dörfern, arbeiten unsere Mitarbeiter - alles Einheimische aus der Region - mit Lehrern, Familien, Mitarbeitern der Gesundheitsbehörden, Hebammen und Geburtsfrauen zusammen. Es geht im Wesentlichen darum, Wissen zu vermitteln. Zum Beispiel, dass Babys in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich gestillt werden sollen. Das ist die Basis für eine gute Gesundheit. Der Tschad hat derzeit noch die niedrigste ausschließliche Stillrate der Welt: Traditionell geben die Frauen dort ihren Kindern neben der Brust auch Wasser und Tee - diese oft nicht keimfreien Getränke sind riskant für die Gesundheit. Wir sorgen auch für eine Eisen-Zusatzversorgung von Kindern und vor allem von werdenden Mütter, denn sie sind ein kostengünstige Art, den Körper gegen Krankheiten stark zu machen.

Liefern die traditionelle Gerichte nicht genügend Nährstoffe?

J.S.: Es gibt im Tschad gute Lebensmittel - viel Blattgemüse etwa, und die Saucen werden häufig mit Erdnüssen zubereitet. Das sind an sich gute Eisenquellen. Aber oft reicht das nicht, weil der Anteil innerhalb einer Mahlzeit zu gering ist. Eine Ergänzung ist nötig.

Wie gut ist die ärztliche Versorgung?

J.S.: Es gibt nur wenige Ärzte - auf 100.000 Einwohner kommen nur vier davon. Wenn es unter der Geburt zu Komplikationen kommt, ist das eine enorme Herausforderung, denn die Entfernungen sind oft groß. Aber wenn die Begleitung vorher gut ist, treten meist auch weniger Komplikationen auf.

Sterben die meisten Kinder an Hunger?

J.S.: Das stimmt sicherlich für einige Gebiete, es gibt insgesamt zu wenig und nicht ausgewogene Nahrung. Mehr Kinder aber sterben durch Krankheiten. Wenn ein Kind krank ist, etwa Durchfall hat, kann es seine Nahrung nicht gut auswerten. Man wächst nicht, wenn man Malaria hat, weil man keinen Appetit hat. Es geht also nicht nur um Lebensmittelsicherheit, sondern auch darum, Krankheiten zu bekämpfen und an den Wurzeln zu packen.

Gibt es schon messbare Ergebnisse - schlägt sich die Arbeit in Zahlen nieder?

J.S.: Im Tschad können wir den Erfolg noch nicht in Form von sinkenden Sterberaten messen, weil sich die Auswirkungen erst mit einiger Zeitverzögerung zeigen werden. Was wir jetzt schon statistisch belegen können - und das ist einer der Faktoren, der die Kindersterblichkeit massiv senken wird - sind deutlich gestiegene Impfraten in unseren Projektgebieten. Während im Tschad im Landesdurchschnitt nur etwa 20 Prozent der Kinder voll geimpft sind, sind es dort, wo wir arbeiten, zwischen 50 und 80 Prozent. Es gibt immer noch viel zu tun. In vielen Ländern liegt die Impfquote bei weit über 95 Prozent. Da wollen wir hin.

Bessere Bildung gilt als Schlüssel gegen Armut. Trifft das auch für den Tschad zu?

J.S.: Früher ging es dabei vor allem darum, Infrastrukturen zu schaffen, also Schulgebäude, Sitzbänke, Tafeln. Das ist immer noch wichtig, aber der Schwerpunkt liegt heute auf der Qualität der Bildung.

Viele Lehrer haben selbst nur einen Grundschulabschluss und können noch nicht mal selbst richtig schreiben. Sie sind nicht Beamte, sondern ganz normale Bürger, angestellt von den Gemeinden, unregelmäßig bezahlt und das auch selten mit Geld, sondern mit Lebensmitteln. Wir setzen uns dafür ein, dass Lehrer ordentlich vom Staat bezahlt werden. Dazu betreiben wir im Land aktive Lobby- und Aufklärungsarbeit. Bis es so weit ist, versuchen wir, die Lehrer da zu unterstützen, wo es geht. Zum Glück sind viele, mit denen wir zusammenarbeiten, schlau und motiviert. Sie wollen etwas verbessern, haben den Ehrgeiz, selber besser rechnen und lesen zu lernen. Wir sorgen dafür, dass sie konkrete Lehrpläne haben, nach denen sie arbeiten können, denn die staatlichen Vorgaben sind oft nur sehr grob. Ziel ist es, dass Kinder mit 11 Jahren lesen können und die Grundrechenarten beherrschen. Mit diesen Gedanken müssen wir allerdings auch die Eltern erreichen. Viele Familien schicken ihre Kinder nicht zur Schule, weil sie die Notwendigkeit nicht sehen oder es einfach nicht können.

Was hindert sie daran, ihre Kinder zur Schule zu schicken?

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Neue Schulgebäude sind nicht alles - auch der Unterricht soll besser werden

J.S.: Es ist ein Teufelskreis. Kinder werden auf den Feldern als Arbeitskräfte eingesetzt. Sie zur Schule zu schicken, ist mit Kosten verbunden: Sie müssen gegessen haben, bevor sie zum Unterricht gehen, sie müssen dort hinkommen, sie brauchen ein Heft, einen Bleistift. Hinter einem Nein oder Ja zum Schulbesuch stehen oft harte Entscheidungen: Vielleicht kann es sich eine Familie nur leisten, ein einziges Kind zur Schule zu schicken, nicht alle.

Hier geht's zum zweiten Teil des Interviews: "Kleiner Einsatz, große Wirkung: Wieso Kinderpatenschaften im Tschad besonders viel verändern".

Wenn Sie mehr über das Land Tschad lernen möchten, besuchen Sie doch auch unsere Tschad-Länderseite mit interessanten Hintergrund- und Projektinfos. World Vision Tschad informiert auch auf seiner Facebook-Seite über die aktuellen Projekte.

Dieser Beitrag erschien im Original auf dem WorldVision-Blog.

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